Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
sagte Sidonia vorsichtig.
»Verfolgt man ihn? Ist er tot?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte Sidonia, froh darüber, damit nah an der Wahrheit zu bleiben.
»Warum bist du zu uns gekommen? Und woher? Aus Frankreich?« Er senkte seine Stimme, dabei konnte niemand sie hier unter der Weide, am Ufer des murmelnden Baches belauschen. »Gehörst du zu denen, die man die Reinen nennt?«
Sidonia runzelte die Stirn. »Die Reinen?«
Jonas Stimme wurde zu einem Flüstern. »Katharer, oder kurz Ketzer. Wir wissen, dass es in den Pyrenäen noch geheime Zirkel gibt. Über dreihundert Jahre haben einige von ihnen allen Verfolgungen getrotzt.«
Sidonia schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, aber der Abt eines Klosters, in dem ich auf dem Weg hierher übernachtete, meinte, dass es hier in den Bergen solche Ketzer gäbe.«
Jona legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Damit muss er uns gemeint haben. Ketzer! Keiner könnte christustreuer sein als wir.«
Er schwieg für einen Moment. »Und der Abt, den du meinst, weiß das. Schließlich sind viele unserer Vorfahren für Jesus in den Tod gegangen. Die Alten erzählen es immer und immer wieder. Geschichten von Verfolgung und Tod. Damit füllen sie die Winterabende.« Seine Stimme hatte einen verächtlichen Klang angenommen.
»Verfolgung? Aber wer sollte so aufrechte Christen wie euch hier im katholischen Spanien verfolgen?«
»Christen«, sagte Jona knapp. »Die alten, reinblütigen Christen.«
Sidonia schüttelte verwirrt den Kopf. »Seid ihr Lutherfreunde?«
»Luther? Wer ist das? Ein Katharer?«
Sidonia musste gegen ihren Willen lachen. Wie fern dieses Tal tatsächlich von der Welt war, und wie absurd ihre Gespräche klangen! All das Gezänk über die rechte Religion, über Bibel oder Messbuch, bedeutete hier nichts. Sie stellte sich Lambert in diesem abgeschiedenen Tal vor und wusste, dass auch er in dieser fast perfekten Welt mit seinem Schicksal gehadert hätte. Es war Vorrecht und Fluch der Jugend, die Welt ganz neu entdecken und umgestalten zu wollen, ohne Rücksicht auf deren bittere Gesetze.
»Bist du schon versprochen«, fragte sie Jona.
Der junge Mann nickte.
»Und was sagt deine Braut über deine wilden Wünsche, in die Welt hinauszuziehen?«
»Nichts. Sie kann nicht sprechen.«
»Eine Stumme?«
»Nein, ein Säugling. Esther ist kaum ein Jahr alt. Sie ist das einzige Mädchen hier im Tal, mit dem ich nicht verwandt bin.«
Sidonia schluckte.
»Es gab mal eine andere, der ich anverlobt war«, fuhr Jona zögernd fort. »Sie war einige Jahre älter als ich und sehr hübsch, aber sie hat das Tal verlassen. Vor vielen Jahren. Sie war gerade sechzehn und besuchte ihren Bruder, der in ein Kloster in Santiago eingetreten war. Sie kehrte nie zurück, genau wie er.« Wütend zupfte er an einem Grashalm herum. »Man verbot mir, ihr zu folgen. Es hieß, Mariflores Zimenes sei der Sünde verfallen, sie hat ...«
Sidonia setzte sich mit klopfendem Herzen auf. »Mariflores?« Schnell senkte sie den Blick, als Jona sie verwundert anstarrte.
»Kennst du sie?«, fragte er, und seine Brauen zogen sich zusammen. »Hat sie dir von diesem Tal erzählt? Hat sie dich hergeschickt? Hat sie dir unseren Psalm verraten?«
Sidonia zwang sich, ruhiger zu atmen. »Ich kenne eine Frau dieses Namens, aber sie kommt woanders her.«
»Woher?«
Sidonia spürte Hitze in ihrem Nacken, einen Moment fragte sie sich, ob sie Jona alles anvertrauen sollte, doch dann verwarf sie den Gedanken. Er war zu jung, er wusste nichts von der Welt und würde nicht verstehen. Ihr Geheimnis war zu schrecklich, um es ausgerechnet einer so unschuldigen Seele anzuvertrauen. Außerdem schien er nichts über Mariflores’ tatsächliches Schicksal zu wissen.
»Die Mariflores, die ich meine, war eine sehr alte Frau, die mich vieles lehrte«, log Sidonia.
» Alt?« Jona schüttelte den Kopf. »Nein, alt kann Mariflores nicht sein, vielleicht achtundzwanzig Jahre. Nun ja, älter als du in jedem Falle und gewiss nicht mehr so hübsch.« Der letzte Satz klang trotzig und verriet seinen verletzten Stolz.
Sidonia erhob sich hastig und klopfte Gras von ihrem Rock. »Mir wird kühl hier im Schatten, lass uns umkehren.«
Eifrig sprang Jona auf, streifte seine grobe Weste ab und legte sie um ihre Schultern. Er fasste sie ungeschickt bei den Händen, zog sie zu sich heran.
»Sidonia, wirst du bei uns bleiben?«, fragte er mit rauer Stimme. Die hungrige Hoffnung, die aus seinen Augen sprach,
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