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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Schriftrolle liegt ein Notizbuch. Neben niederländischen Wörtern stehen ein paar chinesische. Wahrscheinlich ist es so: Herr de Zoet hat die Schriftrolle in seine Sprache übersetzt. Dabei wurde ein böser Fluch freigesetzt, und dieser böse Fluch hat Besitz von ihm ergriffen.
    Herr de Zoet spürt, dass ich da bin, und blickt auf.

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    XXVIII

    Kapitän Penhaligons Kajüte an Bord der Phoebus , Ostchinesisches Meer

    Gegen drei Uhr am 16. Oktober 1800
     
    Und so [liest John Penhaligon] ist also das japanische Reich durch die Natur selbst zu einer eigenen kleinen Welt von allen Ländern abgesondert, befestigt, und mit allen Bedürfnissen des Lebens so versorgt, dass es ganz für sich allein, ohne Hülfe andrer Nationen, bestehen kann ...
    Der Kapitän gähnt, und sein Kiefer knackt. Nach Leutnant Hovells Worten ist Engelbert Kaempfers Buch trotz seines Alters immer noch die beste Beschreibung Japans, doch wenn Penhaligon sich mühsam bis zum Ende eines Satzes durchgekämpft hat, ist ihm der Anfang schon entfallen. Durch das Heckfenster beobachtet er den unheilvollen, bewegten Horizont. Der Walzahn, der ihm als Briefbeschwerer dient, rollt vom Tisch, und an Deck erteilt Wetz, der Navigator, den Befehl, die Bramsegel zu trimmen. Nicht zu früh, denkt der Kapitän. Heute Morgen schimmerte das Gelbe Meer noch blau wie das Ei eines Rotkehlchens - jetzt ist es schmutzig grau, und der Himmel ist trüb und fleckig wie angelaufenes Zinn.
    Wo bleibt nur Chigwin , denkt er, und wo bleibt verdammt noch mal mein Kaffee?
    Er hebt den Briefbeschwerer auf und verspürt einen stechenden Schmerz im rechten Knöchel.
    Er blickt zum Barometer. Die Nadel steht auf «Veränderlich».
    Der Kapitän wendet sich wieder Engelbert Kaempfer zu, um einen Denkfehler aufs Korn zu nehmen: Die Formulierung «mit allen Bedürfnissen des Lebens» impliziert, dass die Bedürfnisse aller Menschen gleich sind, doch in Wahrheit unterscheiden sich die Bedürfnisse eines Königs so grundlegend von denen eines Reetschneiders, wie die eines Freigeistes von denen eines Erzbischofs oder wie seine eigenen Bedürfnisse sich von denen seines Großvaters unterscheiden. Er klappt sein Notizbuch auf und schreibt, während er sich gegen den Seegang stemmt:
    Welcher prophetische Handelsherr hätte, sagen wir im Jahr 1700, vorhersehen können, dass der einfache Bürger einst Tee und Zucker in rauen Mengen konsumieren wird? Welcher Untertan Williams und Marys hätte das «Bedürfnis» des Volkes nach baumwollenen Betttüchern, Kaffee und Schokolade vorausahnen können? Die Ansprüche der Menschen unterliegen der jeweils herrschenden Mode, und indem neue, lautstark angepriesene Bedürfnisse die alten verdrängen, verändert die Welt ihr Gesicht ...
    Es ist zu stürmisch, um weiterzuschreiben, aber John Penhaligon ist zufrieden, und auch die Gicht hat sich einstweilen beruhigt. Eine Goldader. Er nimmt den Rasierspiegel aus dem Sekretär. Der Mann im Spiegel ist durch süßes Backwerk fett geworden, das Gesicht ist vom Brandy gerötet, Gram hat seine Augen ausgehöhlt, und Stürme haben ihm den Schopf vom Haupt gepustet, aber was stellt die Lebenskraft eines Mannes - und seinen Ruf - besser wieder her als der Erfolg?
    Er probt seine erste Rede vor dem Parlament. «Man bedenke, dass es sich bei der Phoebus », wird er den entzückten Lords erklären, «man bedenke, dass es sich bei meiner Phoebus nicht um ein gewaltiges, mit donnernden Kanonen bestücktes Linienschiff handelte, sondern um eine bescheidene Fregatte mit vierundzwanzig 18-Pfündern. Der Kreuzmast war in der Formosastraße geborsten, das Tauwerk ausgefranst, die Segel zerschlissen, die Hälfte unserer Vorräte aus Fort Cornwallis waren verfault, und die altersschwache Pumpe keuchte wie mein lieber Freund Lord Falmouth auf seiner schmollenden Hure - und das ebenso ertraglos ...», der Saal wird toben vor Gelächter, während sein alter Erzfeind sich vor Scham in seinen Hermelinbau flüchtet. «Aber ihr Herz , Mylords, war aus englischer Eiche geschnitzt, und als wir an die verschlossenen Tore Japans klopften, geschah dies mit der Entschlossenheit, für die unser Volk zu Recht berühmt ist.» Die Lords werden ehrfurchtsvoll verstummen. «Das Kupfer, das wir den hinterlistigen Niederländern an jenem Oktobertag abnahmen, war nur ein Andenken. Der wahre Gewinn, verehrte Herren - und das Vermächtnis der Phoebus -, war ein Markt für die Früchte Ihrer Mühlen, Minen, Pflanzungen und Manufakturen sowie die

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