Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
hat, drängen sich Betende.
Er sieht eine Reihe steinerner Götzen; an einem Pflaumenbaum flattern Papierschnipsel.
Ganz in der Nähe heizen Straßenakrobaten mit einem rotzigen Lied das Geschäft an.
Die Sänften überqueren einen eingedämmten Fluss; das Wasser stinkt.
Jacobs Achselhöhlen, Schritt und Kniekehlen jucken vom Schweiß; er fächelt sich mit seinem Portefeuille Luft zu.
Oben an einem Fenster steht ein Mädchen. Am Dachgesims hängen rote Lampions, und das Mädchen kitzelt sich mit einer Gänsefeder träge am Hals. Sie ist höchstens zehn, aber die Augen sind die einer alten Frau.
Glyzinien wuchern üppig über eine zerfallene Mauer.
Ein haariger Bettler, über einer Pfütze aus Erbrochenem kauernd, entpuppt sich als Hund.
Kurz darauf hält die Kolonne vor einem Tor aus Eisen und Eichenholz.
Die Türen öffnen sich, Wachen salutieren, und die Sänften werden in einen Hof getragen.
Zwanzig Pikeniere werden in der brütenden Sonne gedrillt.
Im Schatten eines breiten Vordachs wird Jacobs Sänfte hinuntergesenkt.
Ogawa Uzaemon öffnet die Tür. «Willkommen in der Residenz des Statthalters, Herr de Zoet.»
Die lange Galerie führt in ein schattiges Vestibül. «Hier wir warten», sagt Dolmetscher Kobayashi und bedeutet ihnen, auf den Sitzkissen Platz zu nehmen, die von Dienern hereingetragen werden. Die rechte Seite des Vorraums endet in einer Reihe Schiebetüren, geschmückt mit gestreiften Bulldoggen mit langen üppigen Wimpern. «Sollen angeblich Tiger sein», sagt van Cleef. «Dahinter liegt das Ziel unserer Reise: der Saal der Sechzig Matten.» Auf der linken Seite befindet sich eine vergleichsweise bescheidene Tür, verziert mit einer einzelnen Chrysantheme. Ein paar Zimmer weiter hört Jacob einen Säugling schreien. Geradeaus reicht der Blick über die Mauern der Residenz und die Ziegeldächer bis zur Bucht, wo die Shenandoah im fahlen Dunst vor Anker liegt. Der Duft nach Sommer mischt sich mit dem Geruch nach Bienenwachs und frischem Papier. Die Niederländer haben ihre Schuhe am Eingang ausgezogen, und Jacob ist froh, dass van Cleef ihn vorher gewarnt hat, keine löcherigen Strümpfe anzuziehen. Wenn Annas Vater nur sehen könnte , denkt er, dass ich dem höchsten Beamten des Shōgun in Nagasaki meine Aufwartung mache. Die Beamten und Dolmetscher verharren in eisernem Schweigen. «Die Dielenbretter», erklärt van Cleef, «sollen beim Betreten quietschen, um Attentäter zu verscheuchen.»
«Sind Attentäter», erkundigt sich Vorstenbosch, «hierzulande eine ernstzunehmende Plage?»
«Heutzutage vermutlich nicht mehr, aber alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.»
«Erklären Sie mir doch noch mal», sagt der Faktor, «warum eine Stadt zwei Statthalter hat.»
«Wenn Statthalter Shiroyama seinen Dienst in Nagasaki verrichtet, weilt Statthalter Ōmatsu in Edo und umgekehrt. Sie wechseln sich im Jahresturnus ab. Wenn einer von ihnen eine Verfehlung beginge, würde sein Amtskollege ihn mit Freuden denunzieren. Jede Machtposition im Kaiserreich ist auf diese Weise geteilt und der Amtsinhaber somit kastriert.»
«Niccolò Machiavelli könnte dem Shōgun nicht mehr viel beibringen, würde ich sagen.»
«Gewiss nicht. Ich würde sagen, der Florentiner wäre der Anfänger.»
Dolmetscher Kobayashi verzieht ob dieses respektlosen Umgangs mit illustren Namen missbilligend das Gesicht.
«Darf ich Ihre Aufmerksamkeit», van Cleef wechselt das Thema, «auf den alten Vogelschreck dort drüben in dem Alkoven lenken?»
«Gütiger Himmel», Vorstenbosch sieht genauer hin, «das ist ja eine portugiesische Arkebuse!»
«Nachdem die Portugiesen in Satsuma gelandet waren, begannen die Bewohner einer dazugehörigen Insel, Flinten herzustellen. Als sich zeigte, dass geübte Bauern mit den Flinten zehn Samurai töten konnten, ließ der Shōgun die Herstellung per Dekret beschränken. Man stelle sich vor, welches Schicksal ein europäischer Monarch nähme, der versuchte, einen derartigen Befehl zu erlassen ...»
Eine der Tiger-Schiebetüren öffnet sich, und ein hoher Beamter mit zertrümmerter Nase betritt den Raum. Er geht auf Dolmetscher Kobayashi zu. Die Dolmetscher verbeugen sich tief, und Kobayashi stellt Faktor Vorstenbosch den Beamten als Kammerherr Tomine vor. Tomines Stimme ist so frostig wie seine Haltung. «‹Meine Herren›», übersetzt Kobayashi. «‹In Saal der Sechzig Matten ist Statthalter und viele Berater. Sie müssen Statthalter gleiche Gehorsam zeigen wie
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