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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Gesicht verzieht. Der Tee verschlimmert seine Kopfschmerzen, aber schärft ihm den Verstand.
    Hanzaburo liegt schlafend auf einem Bett aus Nelkenkisten und Hanf.
    Eine Schleimspur zieht sich von seiner Nase bis hinunter zum vorstehenden Adamsapfel.
    Zum Kratzen von Jacobs Feder gesellt sich ein ganz ähnliches Geräusch von einem der Dachsparren.
    Ein rhythmisches Scharren, das rasch von einem leisen Quieken überdeckt wird.
    Ein Rattenbock , denkt der junge Mann, besteigt seine Rättin ...
    Er lauscht und gibt sich Erinnerungen an weibliche Körper hin.
    Er ist nicht stolz auf diese Erinnerungen und spricht auch nie darüber ...
    Ich entehre Anna, denkt Jacob, wenn ich mich mit solchen Gedanken aufhalte.
    ... aber die Bilder verweilen und machen sein Blut dick wie Pfeilwurz.
    Los, du Esel , befiehlt sich der Sekretär, konzentriere dich auf die Arbeit, die vor dir liegt ...
    Mit Mühe wendet er sich wieder der Aufgabe zu, in dem undurchdringlichen Wust von gefälschten Quittungen, die in einem von Daniel Snitkers Stiefeln gefunden wurden, fünfzig fehlende Reichsdollar aufzuspüren. Er will sich Tee nachschenken, aber die Kanne ist leer. Er ruft: «Hanzaburo?»
    Der Junge rührt sich nicht. Die rammelnden Ratten sind verstummt.
    «Hai!» Ein paar Sekunden später schreckt der Junge aus dem Schlaf auf. «Herr Dazūto?»
    Jacob hebt die mit Tinte beschmierte Tasse. «Bitte bringe mir frischen Tee, Hanzaburo.»
    Hanzaburo blinzelt, reibt sich den Kopf und macht: «Hä?»
    «Frischen Tee bitte.» Jacob schwenkt die Kanne. «O-cha.»
    Hanzaburo rappelt sich mit einem Seufzen auf, nimmt die Teekanne und schlurft davon.
    Jacob spitzt die Feder, aber nach wenigen Augenblicken sinkt ihm der Kopf auf die Brust ...
     
    ... Ein buckliger Zwerg steht als Silhouette im gleißenden Licht der Knochengasse.
    In seiner behaarten Hand steckt ein Knüppel ... nein, es ist ein großes, knochiges, blutiges Stück Schweinefleisch.
    Jacob hebt den schweren Kopf. Sein steifer Nacken knackt.
    Der Bucklige betritt schnüffelnd und grunzend den Speicher.
    Das Schweinestück ist in Wirklichkeit ein amputierter Unterschenkel: Sogar der Fuß hängt noch dran.
    Der Bucklige ist auch kein Buckliger: Es ist William Pitt, der Affe von Dejima.
    Jacob springt auf und stößt sich das Knie. Er sieht Sterne.
    William Pitt erklimmt mit seiner blutigen Beute einen Turm aus Kisten.
    «In Gottes Namen», Jacob reibt sich die Kniescheibe, «wie bist du nur an dieses Ding gelangt?»
    Stille, bis auf das ruhige gleichmäßige Atmen des Meeres ...
    ... und dann fällt es Jacob wieder ein: Dr. Marinus wurde gestern auf die Shenandoah gerufen, weil eine herunterfallende Kiste einem estnischen Matrosen den Fuß zerquetscht hatte. Wunden werden schneller brandig, als Milch im japanischen August sauer wird, und der Arzt verordnete die Säge. Die Operation soll heute im Krankenhaus durchgeführt werden, damit seine vier Studenten sowie ein paar städtische Gelehrte der Prozedur beiwohnen können. Es klingt zwar unwahrscheinlich, aber William Pitt muss sich hineingeschlichen und das amputierte Bein gestohlen haben: Welche andere Erklärung könnte es geben?
    Eine zweite Gestalt betritt, kurzzeitig erblindet von der plötzlichen Dunkelheit, den Speicher. Ihre schlanke Brust hebt sich vor Anstrengung. Über dem blauen Kimono trägt sie einen Künstlerkittel voller dunkler Flecken, und ein paar Haarsträhnen haben sich aus dem Kopftuch gelöst, das einen Teil ihrer rechten Gesichtshälfte verdeckt. Erst als die Gestalt in das Licht tritt, das durch das hohe Fenster fällt, erkennt Jacob, dass es sich bei dem Verfolger um eine junge Frau handelt.
    Abgesehen von den Wäscherinnen und einigen «Tanten», die in der Dolmetscherzunft dienen, sind Prostituierte, die für eine Nacht gemietet werden oder als «Ehefrauen» für länger in den Wohnungen der besser bezahlten Beamten bleiben, die einzigen Frauen, die die Landpforte passieren dürfen. Diese teuren Kurtisanen werden von Zofen begleitet. Jacob schätzt, dass sein Besuch eine dieser Begleiterinnen ist: Vermutlich hat sie mit William Pitt um das gestohlene Bein gerungen, konnte es ihm nicht entreißen und ist dem Affen ins Lagerhaus gefolgt. Leute - ein Stimmengewirr aus Niederländisch, Japanisch und Malaiisch - poltern vom Krankenhaus die Lange Straße hinunter.
    Ihre Schatten tauchen flüchtig im Türrahmen auf und verschwinden in der Knochengasse.
    Jacob durchforstet sein spärliches japanisches Vokabular nach einem

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