Die Templerverschwoerung
Vielleicht liegt sogar schon ein Haftbefehl gegen mich vor. Und gegen dich. Also nichts wie weg von hier. Aber vorher möchte ich dich noch mit jemandem bekannt machen.«Die Benin Street verläuft vom Menelik Square und der Kidus Gyorgis Kirche fast bis zum westlichen Rand des Universitätsgeländes. An ihrem Ende führt eine steile Steintreppe auf einen Hügel, der von der kleinen Succat-Rahimim-Synagoge gekrönt wird. Durch eine weiße Doppeltür gelangt man in den großen Raum mit weißen Wänden, an die hebräische Gebete geschrieben sind. Hier finden keine Gottesdienste mehr statt. Mit einer Ausnahme haben alle Juden Addis Abeba verlassen. Die schwarzen Juden, die Falasha, sind sämtlich nach Israel gezogen. Hier am Ende der Benin Street haben aber nicht die Falasha ihre Gottesdienste abgehalten, sondern Jemeniten, die vor den Massakern in ihrem Heimatland vor und nach 1947 fliehen mussten. Ihre Mehrheit war in der Operation Fliegender Teppich nach Israel geholt worden. Andere flohen aus Aden, als die britische Herrschaft zusammenbrach. Einige von ihnen kamen nach Addis Abeba, besonders nach 1966, als die Briten endgültig aus dem Jemen abzogen. Eine Zeitlang gab es hier eine sehr lebendige Gemeinde, zu groß, als dass alle ihre Mitglieder in der Synagoge Platz finden konnten. Doch 1994 zählte sie nur noch einige hundert Leute, und mit den Jahren wurden es immer weniger. Manche gingen nach Israel, andere nach Amerika, wieder andere starben oder verschwanden auf Nimmerwiedersehen.
»Gershom wird dir gefallen«, meinte Mariyam. »Er ist in die Jahre gekommen, aber als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er noch alles im Griff. Er betreibt jetzt seine eigene Website, eine ganz erstaunliche Sache. Menschen aus der ganzen Welt schicken ihm Fragen, und er beantwortet sie. Einem wie ihm bin ich nie wieder begegnet. Manche nennen ihn den Gaon von Addis.«
»Den Gaon?«
»Ich weiß auch nicht genau, was das bedeutet. Es ist eine Art jüdischer Gelehrter, ein weiser Mann, so sagt man. Vor allem ist er ein sehr netter Kerl. Er hält dir keine Predigten und spielt sich nicht in den Vordergrund. Er hätte genügend Anhänger, um seine eigene Akademie zu eröffnen, zieht es aber vor, seine Ideen über die Website zu verbreiten. Natürlich ist er nicht nur ein Gaon. Er ist Philosoph, Soziologe, ein begabter Maler und eine Autorität, was den britischen Fußball betrifft; über Rooney und Beckham hat er eine sehr eigene Meinung. Seine Bilder sind so gut, dass er schon in London und New York ausgestellt hat. Zudem spielt er ausgezeichnet Klavier. Früher hat er an der Universität gelehrt. Einmal in der Woche sammelte er eine größere Gruppe von uns Studenten um sich, der er als Erste seine neuesten Ideen präsentierte.«
»Das klingt sehr beeindruckend.«
Sie zuckte die Schultern.
»In gewisser Hinsicht schon. Aber nicht, wie du denkst. Er ist einer der bescheidensten Menschen, die ich kenne, ohne eine Spur von Arroganz im Leib. Der übrigens auch ziemlich beeindruckend ist.«
Der Gaon von Addis war zu Hause. Noch wenige Minuten zuvor hatte er sich in der Synagoge zu schaffen gemacht, Bücher abgestaubt und die Thorarollen in Ordnung gehalten. Wie Mariyam angedeutet hatte, war er ein großer Mann. Er trug eine äthiopische Shamma , die er, doppelt zusammengelegt, als Gebetsschal benutzte, eine kleine schwarze Kippa auf dem Kopf und bananenförmige Pantoffeln an den Füßen. Er sah, wie Mariyam sie musterte.
»Meine Cousine in London hat sie mir letztes Jahr zu Rosh Hashanah geschickt«, erklärte er. »Sie kommen von Marks & Spencer und sind sehr bequem. Schön, dich zu sehen, Mariyam. Das ist für mich immer eine große Freude. Wann sindwir uns das letzte Mal begegnet? Vor zwei Jahren? Nimm mir nicht übel, wenn ich das sage, aber du siehst gar nicht gut aus. Ist etwas passiert? Und der junge Mann, ist das dein Freund? Oder dein Ehemann? Immer herein mit euch, wir wollen doch nicht auf der Straße miteinander reden. Die Leute gucken schon.«
Er zog sie in einen kleinen Korridor, dessen Wände vom Fußboden bis zur Decke mit Gemälden vollgehängt waren. Jüdische Weise und Heilige waren darauf dargestellt. Conor sah sofort, dass Gershom wirklich Talent besaß, dass er mehr konnte, als Hände, Gesichter, die langen Bärte und das lange Haar seiner Figuren zu malen, sondern dass er ihr Inneres nach außen kehrte. Von allen Seiten schienen lebendige Menschen auf sie herniederzuschauen, die jeden Augenblick den Mund
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