Die Terranauten 016 - Gestrandet auf Rorqual
auf und suchten nach einem Gegenstand, der sie von der Fessel befreien konnte. Es dauerte eine Weile, dann kam David auf eine Idee. Ihr Schlafraum war mit einigen Wänden hängenden Zierschwertern bestückt. Er nahm eines davon ab, legte es auf den Boden und stellte sich mit beiden Füßen auf den Mittelpunkt der Klinge. Dann bückten sie sich beide, schoben die Kette unter der Klinge hindurch und begannen, indem sie ihr ganzes Körpergewicht einsetzten, das Schwert am Boden zu halten und gleichzeitig zu ziehen. Umsonst. So konnten sie die Glieder nicht sprengen. David war bereits nahe daran aufzugeben, als Thorna plötzlich auf die schweren Vorhänge deutete, die das Zimmerfenster bedeckten. Das Dienstpersonal hatte sie, damit sie in bestimmten Abständen Falten warfen, mit fingerlangen, dicken Nadeln versehen.
Es kostete David eine geschlagene halbe Stunde, dann verhakte sich die Nadelspitze im Inneren des Schlosses an der richtigen Stelle und es klickte. Erleichtert massierte er seinen linken Arm.
»Jetzt ich«, sagte Thorna aufgeregt.
David befreite auch sie. Als sie die Vorhänge beiseitezogen, war es draußen bereits hell geworden. Die Krieger der O’Broins trieben die Sklaven zur Arbeit. Vor dem Kartell hatte man mehrere riesige Kochtöpfe aufgebaut, in denen Frauen mit hölzernen Löffeln rührten. Zumindest schien man die Arbeiter nicht verhungern zu lassen.
Kurz darauf ließ Justin seine Gäste zum Frühstück bitten. Sein Bruder war nicht zugegen, aber als David und Thorna den luxuriös ausgestatteten Salon betraten, sahen sie durch eine andere Tür gerade einen Mann verschwinden, der offenbar mit Justin ein Gespräch geführt hatte.
»Mein Bruder hat mir eine letzte Verwarnung erteilt«, sagte Justin betrübt. »Er will mir alle Mittel für mein Ballonprojekt streichen, wenn ich mich nicht mit all meinen Kräften für den Wiederaufbau des Kastells einsetzte.« Er seufzte. »Ich weiß ja, daß es wichtig ist, die Mauer wieder hochzuziehen«, fügte er hinzu. »Aber was kann ich schon dabei tun? Ich bin nun mal kein Hand-, sondern ein Geistesarbeiter. Ich verstehe nicht, warum er darauf besteht, wo er doch genau weiß, daß ich doch nur alles falsch machen würde.«
David und Thorna nahmen Platz. Erst jetzt wurde David terGorden richtig bewußt, welch tragische Figur Justin doch war. Ein Mann der Wissenschaft auf einem Planeten, auf dem die Wissenschaft nur dann zählte, wenn sie für irgendwen von persönlichen Nutzen war! David zweifelte nicht daran, daß Padraig O’Broin seinem Bruder jegliche Unterstützung hätte zuteil werden lassen, wenn dieser sich darauf konzentriert haben würde, Kanonen zu entwickeln. Der Plan jedoch einen Ballon zu konstruieren und damit die Berge zu überfliegen, war höchstens für einen Witz gut – vorausgesetzt, man befand sich in generösen Stimmung. Ein Mensch wie Justin mußte in dieser Umgebung nicht nur den Hohn, sondern auch Aggression auf sich ziehen. Es war die Wut der Sprachlosen, die sich gegen ihn richtete, der Zorn und Haß derjenigen, die alles nur rein pragmatisch beurteilten und für Träume in ihren Herzen keinen Platz hatten.
Als David Justin ansah, stellte er fest, das im Gesicht seines Gegenübers plötzlich eine Veränderung vor sich gegangen war.
»Ich werde das Projekt nicht abbrechen«, sagte Justin entschlossen. »Ich habe schon zuviel investiert, als daß ich jetzt noch zurück konnte.« Er stand auf. »Ich kann jetzt nichts mehr essen. Ich erwarte Euch auf dem Hof, Sir David. Ich will Euch mein Feuerzeug zeigen.«
Nachdem David und Thorna gegessen hatten, gingen sie hinunter. Mehrere umhereilende Offiziere Padraigs betrachteten sie mit ungehaltenen Blicken. Wahrscheinlich paßte es ihnen nicht, daß die Fremden sich nicht an der Arbeit beteiligten. Einmal kam ein Mann auf sie zu und verlangte zu wissen, wer sie seien, aber zum Glück näherte sich im gleichen Augenblick Justin und schickte ihn weg. Der Offizier sah den Bruder des Inselherrschers wütend an, wagte aber keine Widerworte. Offenbar galt Justin auch bei ihnen als eine Art Narr.
Justin führte sie aus dem Kastell heraus in Richtung auf den bunten Tulpenwald, den sie bei ihrer Ankunft gesehen hatten. Als sie in eine Schneise bogen, erhielt David zum erstenmal die Gelegenheit, sich diese seltsamen Gewächse aus der Nähe anzuschauen. Die Bäume hatten einen Umfang von mehr als zwei Metern. Ihre fleischigen, weißen Stengel ragten drei Meter in die Luft, und die sich daran
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