Die Therapeutin - Grebe, C: Therapeutin - Någon sorts frid
Gesellschaft an Frauen gestellt werden.«
Charlotte sieht sehr bekümmert aus, und mir wird klar, dass sie mit einem Mal anfängt, Dinge in Frage zu stellen, die sie bisher rational beiseitegeschoben hat.
»Ich bin die qualifizierteste Vertriebsleiterin in unserem Unternehmen. Ich arbeite wirklich unglaublich hart. Und trotzdem scheint es irgendwie nicht zu reichen. Meine männlichen Kollegen haben höhere Einkommen und lautere Stimmen. Ich bin es so verdammt müde, immer schreien zu müssen, um mir Gehör zu verschaffen.« Jetzt hat sie wieder rote Flecken am Hals, wie immer, wenn sie sich aufregt, und die Finger trommeln immer schneller.
»Ich meine, ich habe immer gedacht, all der Kram, den die Frauen da über unsichtbare Grenzen und die geschlossene Welt der Männer geredet haben, sei Unsinn. Ich habe immer gedacht, dass allein das Resultat meiner Arbeit zählt. Und jetzt stelle ich fest … ich liege falsch. Die Kerle überholen mich, obwohl ich mehr schaffe. Sie spielen Golf mit dem Chef und gehen mit der Geschäftsführung in die Sauna, ich erfahre einfach nicht alles.«
Charlotte Mimer ist wütend. Ihre Kiefer sind fest zusammengepresst, und sie kneift die Augen zu, während sie spricht. Ihr ganzer Habitus signalisiert unterdrückte Wut. Ich habe ihre Wut noch nie so deutlich gesehen wie jetzt. Und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich nehme an, dass Charlotte Recht hat. Was sie sagt, stimmt. Frauen werden marginalisiert. Das sehe ich auch als Therapeutin. Ich sehe, wie die Probleme junger Mädchen negiert und vergessen werden. Ich sehe den Mangel an Betreuungsangeboten für Mädchen. Wie die Ressourcen der Schulen dafür eingesetzt werden, die lärmenden
Jungs im Griff zu behalten, während von den Mädchen erwartet wird, dass sie allein zurechtkommen. Dass sie unbeirrt durch die Fährnisse eines Teenagerlebens steuern, das so voller Anforderungen und Gegensätze ist, dass sie kaum von der Stelle kommen. Und wieder sehe ich Sara Matteus’ blasses Gesicht vor mir. Wenn jemand Sara doch rechtzeitig gesehen hätte. Wenn jemand ihr geholfen hätte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Deshalb nicke ich Charlotte nur aufmunternd zu.
»Das Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich tun soll.«
Plötzlich sieht Charlotte müde aus.
»Wenn ich diese Dinge bei meinem Chef zur Sprache bringe, bin ich ein Störenfried und kann meine weitere Karriere vergessen. Dann kann ich … gleich im Callcenter anfangen.«
Ihre Miene besagt, dass dieses Schicksal schlimmer ist als der Tod. Etwas, was sie nicht einmal ihren schlimmsten Feinden wünscht. Mein Gesicht scheint zu verraten, was ich denke, obwohl ich geübt darin bin, meine Gefühle und Ansichten zu verbergen, denn plötzlich lacht Charlotte auf.
»Ja, ich weiß«, sagt sie. »Es gibt Schlimmeres als die Arbeit in einem Callcenter.« Der Kommentar ist so absurd, dass wir beide anfangen zu lachen.
Sie scheint einen Absprung wagen zu wollen. Sammelt Mut, um etwas laut zu formulieren, das sie bisher nur zu denken gewagt hat.
»Manchmal habe ich das Gefühl, als würde mir diese ganze Therapie eher schaden als nützen.«
Charlotte schaut aus dem Fenster, während sie das sagt, und ich verstehe, dass sie mich nicht ansehen möchte. Nicht meinem Blick begegnen will.
»Vorher war alles okay. Nicht gut, absolut nicht, aber es war
schon in Ordnung. Es war mein Leben. Ich habe nicht so verdammt viel darüber nachgedacht, ob es gut oder schlecht war. Ob ich das Richtige oder Falsche getan habe. Ich … ich war einfach nur. So, wie ich nun einmal war. Und jetzt stelle ich alles in Frage. Meine Arbeit, meine Rolle im Unternehmen, meine Chefs. Meine Weiblichkeit, meine Sexualität.«
Sie seufzt schwer, und die roten Flecken an ihrem Hals breiten sich bis zu dem moderaten Dekolleté aus, und ihre Stirn glänzt von den winzig kleinen Schweißtropfen, die wie ein fast unsichtbarer Film über der feinporigen Haut liegen.
»Und ich fühle mich so verdammt wütend. Empört. Eigentlich fast die ganze Zeit. Wütend und enttäuscht von mir selbst, die ich es zugelassen habe, dass mir mein Leben aus den Händen gleitet. Wütend auf die Kollegen. Auf meine Mutter. Auf meinen Vater. Und auf Sie. Ich bin so schrecklich wütend auf Sie, weil Sie all das hier überhaupt erst in Gang gebracht haben.«
Sie sieht mich lange Zeit schweigend an, und ich versuche das zu dechiffrieren, was ich in ihrem Blick sehe: Ist es Resignation? Oder etwas anderes: die jahrelang unterdrückte
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