Die Tochter Der Goldzeit
sie einfach nur in den Armen und ließen sie weinen. Mit allen sprachen sie viele Stunden lang.
Die beiden halbwüchsigen Mädchen fanden vor Schmerz über den Verlust ihrer Liebsten und ihres Zuhauses kaum Schlaf. Über Wochen wechselten Grittana und ihre Heilerinnen sich nachts an den Betten der Mädchen ab. Musiker wie Mai, Tondobar und Friedjan spielten Flöte, Violine und Zither mit den Flüchtlingen. Dichter und Erzähler wie die Ratsfrau Lundis oder der Katafrakt Friesen lasen ihnen Geschichten vor oder machten Verse mit ihnen.
Nach und nach kamen die geschlagenen Menschen aus dem Süden wieder zu Kräften, nach und nach gewöhnten sie sich an das Leben in der Sozietät von Altbergen. Den Kindern und Halbwüchsigen gelang das schneller als den Erwachsenen.
Um den zwanzigsten Tag des vierten Mondes fand die Zweite Wächterin des Tores einen entkräfteten Kolk im frischen Birkenlaub am Nordrand der Lichtung: Merkur. Er trug Katanjas dunkelblaue Briefkapsel. Lundis brachte ihn in die Bergstadt.
Sie fand Tondobar und Grittana in der unteren Halle am Fuß der großen Treppe neben dem Kamin sitzen. Die Meisterin schrieb in das Buch der Chronik, der Erste Wächter des Tores spannte Saiten in seine neue Violine. Lundis übergab ihren Bock den Hütern der Vorhalle und stieg dann die Treppe hinunter. Der Kolk saß auf ihrer Schulter. Erst sahen spielende Kinder zu ihr auf, dann einige Frauen. Helvis stieß einen Schrei aus, weil sie Merkur erkannte, und zwei Atemzüge später wussten es alle: Katanja hatte geschrieben. Keiner hatte erwartet, so schnell wieder von ihr zu hören. Die Freude war groß.
Grittana überließ es Katanjas Vater, die Briefkapsel zu lösen und zu brechen. Tondobar entrollte den Brief seiner Tochter und setzte sich neben seine Frau Mai. Beide lasen das Schreiben gemeinsam. Mais Säugling Jannis schlief in ihrem Brusttuch. Das Paar las Katanjas Zeilen ein zweites Mal. Sie lächelten, sie flüsterten und lasen den Brief zum dritten und vierten Mal. Danach reichten sie ihn der Meisterin.
»Sie ist frei!«, rief Tondobar. Fast die gesamte Sozietät hatte sich inzwischen in der unteren Vorhalle und auf der großen Treppe versammelt. Auch die aus Tikanum waren unter den vielen Menschen. »Es ist gekommen, wie Katanja erhofft hatte: Tiefländer haben die Pfahlhüttensiedlung überfallen.« Die Menschen drängten sich um ihn und seine Frau. Tondobar stand auf, erzählte, was seine Tochter geschrieben hatte, erzählte von den räuberischen Meeresnomaden, auf deren Schiff sie nun lebte, von ihrer Arbeit als Heilerin, von dem Vertrauen der Poruzzen und von ihrer Seereise nach Norden. »Sie ist jetzt im Nordsund, stellt euch vor!«, rief er. »Nur noch wenige Tagesreisen entfernt von Hagobaven!«
Ein Raunen ging durch die Menge, Rufe wurden laut. Die Männer und Frauen der Sozietät wollten mehr wissen.
»Ich lese euch vor!«, rief Grittana. Sie stieg ein paar Stufen der breiten Treppe hinauf und las: »Wir sind an der Nordküste einer großen Halbinsel gelandet. Meine Poruzzen haben dort ein Fischerdorf ausgespäht. Die Bewohner besitzen eine Herde Großhirsche, deren Böcke schaufelartiges Gehörn tragen. Sie sind höher und schwerer als unsere Mammutwidder und heißen Alker. Auf das Fleisch und das Fell dieser Tiere hatte Cahn Rosch es abgesehen. Mit der Zunge einer Fee redete ich auf ihn ein, bis er bereit war, den Angriff aufzuschieben, und mir gestattete, in das Dorf zu gehen und mit den Bewohnern zu verhandeln. Ich traf auf vernünftige Männer und Frauen, die mit sich reden ließen. Jetzt bauen meine Poruzzen den Dorfbewohnern einen Damm, der ihr Weideland vor Sturmfluten schützt. Im Gegenzug geben die Nordleute uns Fleisch, Fell, Werkzeug und Waldbeeren. Wenn meine Karten stimmen, liegt Hagobaven an der Ostküste einer großen Halbinsel, noch höchstens hundert Seemeilen entfernt. Der Capotan ist bereit, dorthin zu segeln. Sobald der Damm fertig ist und die Fässer mit dem gepökelten Fleisch und die Felle verladen sind, stechen wir wieder in See ...«
Zum Schluss verlas Grittana die zahlreichen Grüße Katanjas. Danach stieg sie von der Treppe und setzte sich wieder an ihren kleinen Schreibtisch. Die Stille, in der die Sozietät gelauscht hatte, hielt noch viele Atemzüge lang an. Hier und da hörte man jemanden sich schnäuzen. Tondobar spannte den Violinenbogen, stimmte die Saiten und spielte die Melodie eines Dankliedes. Einzelne Männer und Frauen stimmten mit ein. Bald sang fast die
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