Die Tochter Der Goldzeit
vor sich hin, während er die Treppe hinaufstieg; als gäbe es keinen Anlass zur Furcht. Eiszapfen wuchsen aus seinem schwarzen Bart und aus den störrischen Locken, die sich unter dem Rand seiner Pelzkapuze herausdrängten.
Die Meisterin verstand sie gut. Sie selbst hatte in ihrem vierzehnten Winter zum ersten Mal vor einem Anderen gestanden. Hinterher hatte sie tagelang weder essen noch schlafen können. Kein lebendes Mitglied der Sozietät von Altbergen außer ihr war jemals einem der Anderen begegnet.
Falsch, korrigierte sie sich im Stillen. Keiner außer mir und Katanja.
Auch aus dem Schnee an Deck dieses Wracks wuchsen Bäume da und dort, Birken zumeist. Eis und Schnee bedeckten ihr kahles Geäst, und sie waren höher und standen dichter als die Bäume auf den anderen Wracks. Auch karges, blattloses Gestrüpp entdeckte Grittana hinter einigen Rostlöchern der Decksaufbauten. Von der Reling der beiden Oberdecks hing ein Vorhang aus immergrünem Rankengewächs. Die Aufbauten am Bug waren teilweise zusammengebrochen und durch Holzhütten ersetzt worden. Rostlöcher jeder Größe gähnten im schneebedeckten Deckboden und in den Außenwänden der Aufbauten.
Tondobar deutete auf eine Spur im Schnee. Sie führte zu einer von Rost zerfransten Öffnung in den Decksaufbauten. Eine Tür mochte sie in besseren Zeiten verschlossen haben.
»Gut«, sagte Grittana, »folgen wir ihr.«
Dunkles Geraune lag in der Luft. Linderau spähte nach allen Seiten. Seine Nasenflügel bebten, etwas Gehetztes flackerte in seinem Blick. Tondobar nickte und ging voran. Er versuchte, einen entschlossenen Eindruck zu machen. Vermutlich glaubte er, das seinem Rang als Erster Wächter des Tores schuldig zu sein, und natürlich hatte er recht. Auf Grittana jedoch wirkte er in diesen Augenblicken auf eine jungenhafte Weise tapfer. Das Summen war ihm längst verg an g en .
Nach zwei Schritten blieb Tondobar stehen. Er zog die Schultern hoch und senkte den Kopf. Von einem Atemzug zum anderen schien er festgefroren zu sein.
»Was ist?« Grittana schob sich an seine Seite.
Stumm deutete er auf die Fährte im Schnee. Seine Kaumuskeln arbeiteten, seine Augen schienen unnatürlich groß. Grittana betrachtete die Abdrücke. Der rechte stammte von einem nackten menschlichen Fuß, der linke von der Kralle eines großen Vogels; jedenfalls erinnerte er an die Kralle eines großen Vogels.
»Weiter«, sagte Grittana. Mehr nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Die Männer mussten damit fertig werden, mussten sich sogar an solche Überraschungen gewöhnen. Wenn Grittanas Ahnung sie nicht trog, würden sie dergleichen künftig öfter erleben. Sie ging an Tondobar vorbei und übernahm die Führung. »Kommt schon.«
Schritt für Schritt näherten sie sich der türlosen Öffnung. Etwas wie ein Murmeln drang aus ihr. Grittana und die Männer standen still und lauschten. Ja, Stimmen murmelten, raunten und tuschelten jenseits der Öffnung. Sie gingen weiter. Zwölf Schritte etwa trennten sie noch vom Eingang. Das Murmeln schwoll an und wurde zum Stimmengewirr. Wieder blieben sie stehen, wieder lauschten sie. Es klang, als würden Dutzende von Menschen hinter den Wänden der Decksaufbauten palavern. Auch Gelächter hörten sie jetzt.
»Nur eine Spur führt zu dieser Türöffnung«, flüsterte Linderau. »Eine einzige Spur, aber ich höre viele Stimmen ...«
Grittana hob die Rechte und bedeutete ihm zu schweigen. Sie versuchte zu verstehen, was da verhandelt wurde. Doch es gelang ihr nicht, auch nur ein vertrautes Wort aus dem Palaver herauszufiltern. Sie starrte in den Schnee, wo ein fast kindlicher Fußabdruck neben der Fährte einer kräftigen Vogelklaue zur Türöffnung verlief. Linderau hatte recht: Nur eine einzige Spur, und die Schneedecke war schon ein paar Tage alt. Das Herz schlug ihr plötzlich in der Kehle, und unter ihrem weißen Pelzmantel stellten sich ihr die Härchen im Nacken und auf den Schultern auf. Sie atmete tief durch. »Weiter!« Die Meisterin hatte gelernt, ihre Gefühle und Nerven zu bezwingen.
Der Schnee knirschte unter ihren Sohlen. Sie kamen an einem Loch im Deck vorbei - das Stimmengewirr schwoll an. Gelächter drang aus der Öffnung; schallendes Gelächter, kicherndes Gelächter, meckerndes Gelächter, dröhnendes Gelächter. Sie beschleunigten ihre Schritte, um das Loch schnell hinter sich zu lassen, Gelächter und Palaver blieben zurück. Doch nur, um wieder anzuschwellen, während sie sich der Türöffnung näherten.
Vier
Weitere Kostenlose Bücher