Die Tochter Der Goldzeit
den Raum hinter der Schwelle, die Meisterin folgte ihm.
An der Wand, die der Tür gegenüberlag, zehn oder zwölf Schritte entfernt, saß in einem Knäuel aus Decken und Fellen eine junge Frau mit langem rotem Haar. In der Linken hielt sie eine Öllampe, in der Rechten eine kleine Pyramide aus geschliffenem Glas. Damit fing sie das Lampenlicht ein und warf es auf Grittanas Stiefelspitzen. Sie lächelte und schien vollkommen versunken in das Lichtspiel. Ihre Zähne waren weiß wie Schnee, ihre Haut samtbraun. Sie war schön, wahrhaftig! Mit keinem Blick, keiner Geste verriet sie, dass sie die Anwesenheit der Meisterin bemerkte.
Über ihr an der Wand hing eine zweite Öllampe. Beide Lichtquellen verbreiteten ein mildes, dämmriges Licht. Wenige Schritte rechts des Deckenknäuels, in dem die junge Frau halb vergraben war, führte eine weitere Türöffnung in einen angrenzenden Raum. Der war dunkel, dunkler, als ein Raum hätte sein dürfen, durch dessen Tür das Licht des Nachbarraums fiel. Am Türrahmen hinter der Schwelle erkannte Grittana die Umrisse einer Schulter, eines Schädels, eines Knies. Sie fröstelte.
»Das ist so schön!« Vergnügt betrachtete die junge Frau noch immer die geschliffene Glaspyramide. »Danke!« Jetzt erst hob sie den Blick und sah Grittana ins Gesicht. Sie hatte grüne Augen. Unter einem rauchgrauen Pelz trug sie ein grünes Gewand.
»Bitte.« Die geschliffene Pyramide war eines der Geschenke, die Grittana an der Zeitfuge zurückgelassen hatte. Und jetzt erkannte sie auch den Duft, der sie schon auf der Treppe angeweht hatte: Eibennadelöl; auch eines ihrer Geschenke. »Wer bist du?«
»Sentuya. Und du bist Grittana, die Meisterin von Altbergen«, sagte die Rothaarige. »Was willst du von uns?«
»Zwei Kerle sind bei ihr!«, krächzte eine Stimme hinter dem Türrahmen im dunklen Nachbarraum. »Das war nicht ausgemacht!«
Die rothaarige Frau reagierte nicht, lächelte nur und spielte weiter mit der Glaspyramide und dem Licht. »Linderau, der Älteste des Rates von Altbergen, und Tondobar, der Erste Wächter des Tores.« Die Meisterin sprach in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Wir tragen die Verantwortung für Altbergen zu dritt, also kommen wir zu dritt.« Sie drehte sich um und winkte die Männer zu sich. Beide standen noch im Halbdunkeln vor der Schwelle.
Zaghaft näherten sie sich. »Ihr habt mich lange warten lassen.« Jetzt sprach Grittana die junge Frau an. »Länger als ein Jahr habe ich nach euch gerufen.«
»Du hast solch schöne Geschenke zurückgelassen«, sagte die Frau. »Wir wollten mehr. Also warteten wir ab.«
»Wir haben wertvolle Zeit verloren!« Die Meisterin unterdrückte den aufsteigenden Zorn.
»>Zeit« Die krächzende Stimme hinter der Tür kicherte. »Ein lächerliches Jahr lang hat sie nach uns gerufen und beschwert sich, dass sie Zeit verloren hätte? Wollten wir denn etwas von ihr, he? Oder wollte sie etwas von uns?«
»Es geht nicht nur um unsere Zukunft«, entgegnete Grittana ruhig.
»Es geht auch um eure Zukunft.«
»Das stimmt.« Die junge Frau, die sich Sentuya nannte, ließ Lampe und Glaspyramide sinken. Übergangslos war das Lächeln auf ihren schönen Zügen einem tiefen Ernst gewichen. »Der Eiserne und seine Schiffe sind an den Küsten der Südländer gelandet. Betavar. Er war schon vernichtet, er stand schon auf der Schwelle zum Totenreich. Dort hat er vergessen, wo sie liegt, die Lichterburg. Doch jetzt lebt Betavar wieder. Er ist der Vernichtung entkommen ...«
»Wodurch?«, unterbrach Grittana erschrocken. Die Rothaarige sprach von Dingen, die ihr neu waren. »Wer hat ihn gerettet?«
»Menschen natürlich!«, krächzte es aus dem Halbdunkeln hinter der Tür. »Flüchtige! Wer sonst sollte so dumm gewesen sein? Etwa ein Tier?«
»Menschen, die den Schatz suchen.« Die Rothaarige schlug einen beschwörenden Tonfall an. »Menschen, die an eine zweite Goldzeit glauben. Menschen aus Jusarika. Mit ihrer Hilfe will der Eiserne die Goldzeit wieder heraufbeschwören, und sie wollen die alte Zeit mit seiner Hilfe heraufbeschwören. Betavar und seine Retter wollen die Macht. Sie werden nicht ruhen, bis sie den Weg zur Lichterburg finden. Und wenn sie erst das Erbe der Goldzeit heben ...!«
»Wenn die alten Zeiten auferstehen, müssen wir uns wieder verkriechen«, krächzte es hinter dem dunklen Türrahmen. »So ist das eben, ein Kommen und Gehen ist das. Haben sie Karamellwürfel dabei?«
»Nein«, sagte die Meisterin. Aus
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