Die Tochter der Hexe
Suppe bereitet. Nicht einmal das Geschirr reichte mehr für alle, sie mussten zu dritt und zu viert aus einem Napf essen. Niemand sprach ein Wort.
«Wir stehen vor dem Nichts», flüsterte Marthe-Marie.
Marusch nickte bedrückt. Dann lachte sie.
«Wie kannst du da noch lachen?»
«Du hast ‹wir› gesagt. Darüber freue ich mich.»
22
Am nächsten Morgen – dichter Nebel lag noch über der Wiese am Schafsstall – erschien der Einödbauer mit seiner hübschen jungen Frau, die hochmütig auf Abstand hielt zur Runde der Fahrenden. Unmissverständlich machte der Mann ihnen klar, dass mit den knapp elf Gulden, die er erhalten habe, seine Dienste bei weitem nicht abgegolten seien und er nur aus christlicher Nächstenliebe geholfen habe.
«Dieser Halsabschneider», flüsterte Marusch. «Dafür kann er sich mindestens zwei Kälber kaufen. Oder Schmuck für sein aufgeblasenes Weib.»
Marthe-Marie gab ihr Recht. Diese Frau, die sich in ihrem adretten Seidenkleid und dem Spitzenhäubchen auf dem sorgfältig frisierten Haar ganz offensichtlich über ihren Stand erheben wollte, rührte sicherlich keinen Finger in ihrer Wirtschaft.
«Ich kann mir durch euch nicht noch weitere Unkosten aufhalsen, schließlich muss ich zu Martini meine Abgaben leisten, und das nicht zu knapp. Ich gebe euch also eine Frist von zwei weiteren Nächten, dann müsst ihr von meinem Grund und Boden verschwinden. Wenn ihr frühzeitig aufbrecht, ist die Wegstrecke nach Horb in einem Tagesmarsch gut zu schaffen. Eure Wagen und Gerätschaften können den Winter über auf dem Hof bleiben. Ach ja, das Wagenrad war lediglich geliehen, bis heute Mittag muss es wieder an meinem Fuhrwerk sein.»
Er trat zu seiner Frau und flüsterte mit ihr. Sie nickte.
«Eins kann ich euch noch anbieten: Wir brauchen einen kräftigen Mann als Knecht und eine Frau für die Haushaltung. Einen halben Gulden im Monat für jeden, dazu freie Kost. Geschlafen wird im Stall.»
Keiner sprach ein Wort, als er die Runde abschritt und jeden Einzelnen musterte wie das Vieh auf dem Markt. Vor Lambertund Anna blieb er stehen. Marthe-Marie sah, wie Anna zusammenzuckte.
«Ihr beiden – ihr gehört zusammen?»
Lambert nickte.
«Ihr seht mir aus, als könntet ihr zupacken.»
Als die beiden schwiegen, zog sich seine pockennarbige Stirn in Falten. «Ich dachte, ihr wäret froh über jeden Pfennig, um aus dem Dreck herauszukommen. Also doch nichts weiter als arbeitsscheues Gesindel.»
«Das ist es nicht», entgegnete Lambert ruhig. «Aber wir haben einen Sohn, von dem wir uns nicht trennen.»
Der Bauer sah hinüber zum Wohnwagen, vor dem, dicht aneinander gedrängt, die Kinder hockten. «Welcher ist es?»
Lambert rief Niklas heran.
«Hm.» Der Bauer betastete Arme und Rücken des Jungen. «Ein bisschen schmächtig. Wie alt?»
«Bald elf.»
Er fasste Niklas beim Kinn und befahl ihm, den Mund zu öffnen. Anschließend untersuchte er Augen und Ohren. «Gesund scheint er ja zu sein.»
Marthe-Marie wäre dem Kerl am liebsten ins Gesicht gesprungen. Sie waren doch nicht auf dem Viehmarkt!
«Er kann bei meinem Schwager Gänse und Schweine hüten, gegen Kost und Unterkunft.»
«Unterkunft auf dem Hof Eures Schwagers?»
«Selbstverständlich.»
Anna schüttelte erregt den Kopf. «Wir geben ihn nicht weg.»
«Überlegt es euch. Ich biete es nur an, um zu helfen. Am Sonntag könntet ihr euren Buben hin und wieder sehen, es ist nur drei Wegstunden von hier.»
Dann wandte er sich um und ging mit seiner Frau ohne Gruß davon.
Marthe-Marie war empört.
«Einen halben Gulden im Monat, und dann nicht einmal eine Kammer zum Schlafen – was für ein Hungerlohn.»
«Besser als in der Stadt betteln gehen ist es allemal», murmelte Lambert.
«Niemand von uns wird betteln gehen», entgegnete Marusch bestimmt. «Wir werden uns Arbeit suchen.»
Sonntag ergriff das Wort. «Ihr habt gehört, was der Bauer gesagt hat. Spätestens übermorgen müssen wir verschwinden. Ich schlage vor, wir ziehen gemeinsam nach Horb, suchen uns dort Unterkunft und Arbeit. Alle entbehrlichen Einkünfte – und zwar wirklich alle – wandern in eine gemeinsame Kasse, damit wir spätestens im Frühjahr Zugtiere kaufen und unsere Wagen holen können. Wenn wir Glück haben, bleibt ein Überschuss, um die zerstörten Requisiten und Kostüme zu ersetzen. Und dann ziehen wir, wie geplant, weiter nach Tübingen und Stuttgart. Ihr könnt selbstverständlich auch einzeln euer Glück versuchen, aber bedenkt die
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