Die Tochter der Wälder
Niemand kann sich ihr mehr als eine Tagesreise nähern. Es wimmelt dort nur so von Bewaffneten, und wenn sie einen nicht umbringen, dann erledigen das der Hunger, die Kälte und überhaupt dieser ganze unheimliche Ort. Wenn Ihr wirklich etwas erreichen wollt, müsst Ihr weiter nach Norden.«
Richard kniff die Augen ein wenig zusammen. »Ihr sprecht wie ein echter Kämpfer«, sagte er. »Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht mit mir kommen wollt, Junge? Kannst du den Jungen eine Weile entbehren, Neffe?«
Der Rote blies ein wenig Sägemehl weg und steckte seine Schnitzarbeit wieder in die Tasche. Er wischte sich das kleine Messer am Hemd ab und steckte es in den Stiefel.
»Ich treffe nicht die Entscheidungen für Ben«, sagte er leise.
»Nun, Junge?«
Ben lachte. »Nein, nicht ich. Ich habe hier viel zu tun. Außerdem ist der Kampf gegen dieses Volk, als kämpfte man gegen einen Stamm von – von Geistern oder Gespenstern. Nicht, dass wir nicht ein- oder zweimal Eindruck gemacht hätten. Aber sie haben diese Angewohnheit, aus dem Nichts aufzutauchen, und wenn sie mit einem reden, sprechen sie nur in Rätseln.«
»Und was ist mit dem Wetter?« warf John ein. »In einem Augenblick scheint die Sonne, im nächsten schüttet es. Man könnte ihre Geschichten von Magie und Zauberei beinahe glauben, wenn man sich lange genug dort aufhält. Ich habe es nicht eilig, dorthin zurückzukehren. Mir ist eine Schafherde lieber.«
Ich glaube, sie neckten ihn. Aber Richard dachte schon wieder an etwas anderes und sprach wie mit sich selbst.
»Magie und Zauberei. Da fällt mir etwas ein.« Er ging zur Feuerstelle, um sich den Rücken zu wärmen. Sein Schatten fiel lang gezogen in den Raum, sein Körper wurde von den flackernden Flammen umrissen. »Ihr habt den See und die Festung im Wald erwähnt. Ich habe aus dieser Gegend eine ausgesprochen seltsame Geschichte gehört, eine Geschichte, die den ganzen Verlauf meines Kriegszugs verändern könnte. Der Herr dieser Region heißt Colum von Sevenwaters. Es gibt viele Geschichten über seinen See und seinen Wald und seine Festung; noch mehr Geschichten über die Wildheit seiner Krieger, zu denen auch seine eigenen Söhne gehören. Diese Geschichten sind wahr genug. Wie ihr wohl wisst, ist es diese Region, in der Simon verschwand und meine eigenen Männer niedergemetzelt wurden. Ich habe mich häufig gefragt, ob – aber das ist jetzt gleich. Colums Männer sind kein barbarischer Haufen. Sie sind stark, diszipliniert und gut bewaffnet, und sie kämpfen, als kümmerte sie das Morgen nicht. Wie Ihr sagtet, junger Ben, man müsste dumm sein, einen Angriff auf das Heim eines solchen Mannes zu führen. Aber wie ich höre, haben sich die Dinge für Colum in den letzten Jahren verändert. Wie das geschah, ist schwer zu sagen; es gibt viele Versionen darüber. An einem Tag war er noch ein Mann mit sechs erwachsenen Söhnen. Am nächsten Tag hatte er keinen mehr.«
Jeder, der Richard auch nur annähernd kannte, wusste, dass er niemals eine Geschichte einfach nur zur Unterhaltung erzählte. Es musste ein Haken daran sein, eine verborgene Botschaft.
»Was ist aus ihnen geworden?« fragte Lady Anne.
»Nun, es gibt ein paar Theorien«, erwiderte Richard. »Es heißt, sie waren am Seeufer, und ein großer Wassergeist hat einen Sturm entfacht, der sie ins Wasser zog und ertränkte. Eine andere Geschichte lautet, sie seien von einem Feind, einem wie mir, vergiftet worden, der ihre Leichen dann irgendwo im Wald versteckt hat. Eine dritte Geschichte lautet, dass die Jungen eines Morgens zur Pilzsuche gingen und weggeholt wurden. Sie glauben dort noch ans Kleine Volk, an Elfen und Feen, wisst ihr. Seltsam, dass es möglich ist, dass sie christliche Priester in ihren Häusern haben, am Sonntag zur Messe gehen, und den Kopf trotzdem noch voller Aberglauben haben. Ja, es ist eine seltsame Sache. Wenn es stimmt, wird Colum geschwächt sein und nicht mehr den Willen haben, sich uns zu widersetzen. Der richtige Augenblick, um zuzuschlagen.« Er illustrierte das letzte Wort mit einer raschen Bewegung seines Armes. »Oh, und ich habe ganz vergessen«, sagte er, und nun sah er mich an, »es gab auch eine Tochter. Sie ist mit ihren Brüdern verschwunden. Alle auf einmal. Ich hörte, ihre Mutter sucht sie. Oder war es die Stiefmutter? Sie hat überall hin Späher ausgeschickt. Aber sie sind einfach verschwunden. Wie Simon. Vielleicht haben sie die Feen ja alle mitgenommen. Es war etwa zur selben Zeit.«
Diesmal
Weitere Kostenlose Bücher