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Die Tochter der Wälder

Die Tochter der Wälder

Titel: Die Tochter der Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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einer Weile blickte er auf, und sein Gesicht war bleich.
    »Das Problem ist«, sagte er mit einiger Schwierigkeit, »das Problem ist, es nicht zu wissen. Nicht zu wissen, ob ich – ob ich stark genug war.«
    »Stark genug wofür?« Aber ich konnte es erraten.
    »Das Problem ist – ich kann mich nicht erinnern. Nicht an alles.« Er schauderte nun, als die Erinnerungen zurückfluteten, nicht in den gedankenlosen Heimsuchungen der Nacht, sondern im hellen Tageslicht. »Nicht an alles. Ich bin ziemlich sicher, dass ich durchgehalten habe. Ich muss lange durchgehalten haben, denn sie waren wütend, sie waren so wütend …«
    »Schon gut, Simon«, sagte ich, ging rasch zu ihm, kniete mich neben ihn und nahm seine Hände. »Du kannst es mir sagen.« Er klammerte sich an meine Hände, wie sich jemand an sein Leben klammert.
    »Aber am Ende, als sie – als sie …« Er schloss die Augen, sein Gesicht verzerrt von erinnertem Schmerz. »Dann … ich … ich weiß nicht, ob ich … ich könnte …« Er schien nicht imstande zu sein, diesen Gedanken zu Ende zu führen, als könne er nicht die Kraft aufbringen, Worte zu finden.
    »Du meinst, du hättest ihnen etwas gesagt, was du nicht hättest sagen sollen? Ein Geheimnis verraten?«
    Er nickte. »Ich habe dir doch erzählt, dass er versagt hat – er hat jene verraten, die ihm vertrauten, und hat die Männer seines Bruders dem Feind verraten. Wie würde er danach wieder zurückkehren können?« Er entriss mir seine Hände. »Wer würde nach einer solchen Tat noch sein Freund sein wollen? Er hätte besser gleich sterben sollen.«
    »Du weißt es nicht sicher«, sagte ich vorsichtig. »Ich denke, dass du … er …«
    »Sein Bruder«, sagte Simon. »Du erinnerst dich an die Geschichte? Sein Bruder wartet darauf, dass die Truppe zurückkehrt, aber sie kommen nicht wieder. Er wartet noch ein wenig länger, dann schickt er einen Späher aus, um nach ihnen zu suchen. Es ist ein weiter Weg, quer übers Wasser. Der Späher findet die Stelle, wo sie ihr Lager aufgeschlagen haben. Aber sie sind alle tot; Arme und Beine abgehackt, blicklose offene Augen, die die Krähen fressen. Verraten von einem der Ihren. Danach verflucht ihn sein Bruder, und er darf nie wieder nach Hause zurückkehren zu jenen, die er so verraten hat. Aber für den jüngeren Bruder ist das nichts Neues. Er war nie erwünscht; er hätte wissen müssen, dass das Muster seines Lebens sich nicht ändert. Sein Bruder ist der Held einer jeden Geschichte; aber er ist zum Versagen verurteilt.«
    »Unsinn!« erwiderte ich, und ich war so wütend auf ihn, dass ich ihn an den Schultern packte und ordentlich durchschüttelte. »Das Ende deiner Geschichte ist, was du daraus machst, und sonst nichts. Du kannst damit tun, was du willst. Und einem Helden stehen so viele Wege offen, wie es Äste auf einem großen Baum gibt. Sie sind wunderbar und schrecklich und gerade und gewunden. Sie berühren sich und teilen sich und sind ineinander verwoben, und du kannst ihnen folgen, wie du willst. Sieh mich an, Simon.«
    Er blinzelte einmal, zweimal; im Kerzenlicht waren seine Augen von einem hellen Blau, von der Farbe des Morgenhimmels. Und kalt vor Selbsthass.
    »Ich glaube an dich«, sagte ich leise. »Du bist ein tapferer Mann, du bist ehrlich, und ich bin überzeugt, dass du in jener Nacht deine Geheimnisse bewahrt hast. Ich vertraue dir mehr, als du dir selbst vertraust. Du hättest mich so oft verletzen können, und auch Vater Brien, aber du hast es nicht getan. Es gibt eine Zukunft für dich. Schleudere mir das Geschenk deiner Heilung nicht wieder ins Gesicht, Simon. Wir sind so weit gekommen; lass uns weitergehen.«
    Er saß lange schweigend da; so lange, dass ich Zeit hatte, alles sauber zu machen und Wasser und das Tuch und die Salben für seine Verbände zu holen. Endlich sprach er.
    »Es ist schwer, dir gegenüber nein zu sagen.«
    »Du hast etwas versprochen«, sagte ich. »Erinnerst du dich? Du kannst nicht nein sagen.«
    »Wie lange muss ich tun, was du mir sagst?« fragte er halb im Scherz. »Jahre?«
    »Nun«, meinte ich, »ich habe meine großen Brüder herumkommandiert, seit ich noch ziemlich klein war. Du solltest dich lieber daran gewöhnen, zumindest, bis es dir wieder gut geht.«
    Und dann begannen wir wieder mit der grausamen Arbeit des Waschens und Salbens und Verbindens.
    Als es draußen dunkler wurde, erzählte ich ihm die Geschichte einer Kriegerkönigin, hinter der die Männer her waren wie die

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