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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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Monate fragte ich zunächst nicht weiter nach. Da waren ganz andere Summen, wegen derer wir uns Sorgen machen mussten.«
    Vor seinem geistigen Auge sah Henry wieder das dicke Wirtschaftsbuch, die vielen Ausgaben, die in schmerzlicher Deutlichkeit darin festgehalten waren, und die recht hohen Einzahlungen, die hin und wieder ohne Erklärung auftauchten. Davies sagte, sie stammten aus dem Vermögen, das Lady Weston mit in die Ehe gebracht hatte; Lady Weston würde diese Überweisungen vornehmen, wenn sie sich in einem finanziellen Engpass befänden. Das hatte Henry geärgert – noch ein Grund, sich dieser Frau verpflichtet zu fühlen. Und es hatte ihn auch geärgert, dass es ihm nicht gelingen wollte, Einnahmen und Ausgaben in ein gesundes Verhältnis zu bringen.
    Henry tat einen tiefen, salzigen Atemzug. »Als ich schließlich meinen Vater nach den Zahlungen an unsere alte Kinderfrau fragte, sagte er mir, er hätte ihr eine Pension ausgesetzt, in Anerkennung ihrer außergewöhnlichen Fürsorge für seine Kinder. Wir bezahlten die anderen Diener nicht, wenn sie unser Haus verlassen hatten, doch ich nahm an, dass die Kinderfrau eine Ausnahme wert war, und war zufrieden mit seiner Erklärung.
    Dann, eines Tages, führte mich ein geschäftliches Anliegen nach Camelford. Ich war neugierig und wollte sehen, wie es meiner alten Nanny ging – neugierig vor allem darauf, muss ich gestehen, wofür sie das Geld ausgab, das wir ihr regelmäßig schickten. Ich fragte ein wenig herum und bekam auch schnell heraus, wo sie wohnte. Doch statt der angenehmen Überraschung, die ich erwartete, kam Mrs Hobbes ganz in Schwarz gekleidet an die Tür. Sie wirkte sehr nervös, als sie mich sah. Zuerst dachte ich, sie fürchte, ich sei gekommen, um ihr zu sagen, dass sie kein Geld mehr bekäme. Dann hörte ich ein Geräusch im Nebenzimmer. Irgendjemand schrie immer wieder ›Nein, nein, nein‹. Mrs Hobbes erklärte, ihr Mann sei vor Kurzem verstorben und ihr Sohn noch immer sehr aufgewühlt deswegen.
    Ich fragte, ob ich ihr irgendwie helfen könne, doch sie schien es sehr eilig zu haben, mich wieder loszuwerden. Ich wollte ihr gerade den Gefallen tun, als im Nebenzimmer ein lautes Krachen ertönte. Sie lief hinüber. Ich folgte ihr. Ich sah einen jungen Mann inmitten von zerbrochenem Glas dasitzen, mit dem Kopf schlagen und Unsinn reden. Es war klar, dass mit seinem Verstand etwas nicht in Ordnung war. Ich fühlte mich abgestoßen, muss ich zugeben, und ging, so schnell ich konnte.«
    Henry schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hätte Verdacht schöpfen müssen. Hätte es erraten müssen. Aber nein. Vielleicht wollte ich einfach nicht wahrhaben, was ich sah.«
    Er machte eine Pause, um seine Gedanken zu ordnen – und um seine Schuldgefühle wieder herunterzuschlucken. »Ich verdrängte die Szene; die Jahre vergingen. Doch dann, vor drei oder vier Wochen, schrieb Mrs Hobbes an meinen Vater. Da ich seit geraumer Zeit die Korrespondenz erledige, las ich den Brief als Erster. Mrs Hobbes schrieb, dass sie sich bereit erklärt hätte, diskret für Adam zu sorgen wie für ihren eigenen Sohn. Doch nun könne sie das nicht mehr. Sie lag im Sterben.«
    Henry warf einen Blick zu Miss Smallwood hinüber und sah, dass sie aufmerksam zuhörte; ihre wie abwesend wirkenden, großen grünen Augen waren voller Trauer. Er fuhr fort: »Der Name Adam kammir bekannt vor. Irgendwann wurde mir klar, dass der junge Mann, von dem Mrs Hobbes sprach, mein älterer Bruder war, den ich für tot gehalten hatte. Ich war zutiefst schockiert, wie Sie sich vielleicht denken können. Und doch … auch wieder nicht. Verdrängte Fragen und Erinnerungen tauchten auf und fügten sich wie ein Puzzle zu einem Ganzen.
    Mrs Hobbes sprach in ihrem Brief auch von meinem Besuch vor einigen Jahren und erklärte, dass ich Adam in einem seiner schlimmsten Zustände gesehen hatte. Jede Veränderung brachte ihn völlig aus dem Gleichgewicht und Mrs Hobbes' Tod würde eine äußerst schwerwiegende Veränderung sein. Sie versicherte uns, dass Adam ein außergewöhnlich gutartiges Wesen hätte, machte sich aber Sorgen, wie er mit ihrem bevorstehenden Tod fertigwerden würde.
    Ich zeigte meinem Vater den Brief und er gestand alles. Er wollte noch warten, wollte versuchen, einen anderen Aufpasser für Adam zu finden. Doch Mrs Hobbes hatte uns gebeten, schnell zu handeln, denn sie hatte Angst vor dem, was die lokalen Behörden mit Adam machen würden, wenn sie tot war. Es war ihr letzter Wunsch,

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