Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Master Henry hat mir von der Nacht erzählt, allerdings nicht von Ihnen. Es tat mir sehr leid. Ich schaue nach Adam, so gut ich es neben meinen anderen Aufgaben kann, aber damals war mein Vater krank und ich musste mich um ihn kümmern.«
»Das tut mir leid zu hören. Wie geht es ihm?«
»Leider immer noch sehr schlecht. Er hatte einen Schlaganfall, der Ärmste. Aber wenigstens war ich da und konnte ihm ein wenig beistehen.«
Emma nickte verständnisvoll.
»Deshalb war ich in jener Nacht nicht hier«, fuhr die Frau fort. »Wenn ich da gewesen wäre, wäre ich in dem Sturm zu ihm gegangen, um auf ihn aufzupassen.«
Emma hob die Dose in ihrer Hand hoch. »Ich habe ein paar Dominosteine mitgebracht. Oder … hat er schon welche?«
Mrs Prowse sah sich im Zimmer um. »Nicht, dass ich wüsste. Ich glaube, er hat nicht viele Interessen, aber es ist trotzdem nett von Ihnen.« Sie zögerte. »Sie … werden doch nichts über ihn sagen, oder?«
»Nein. Aber ich finde, es ist eine Schande.«
»Ich auch.« Mrs Prowse holte tief Luft. »Ich kannte Mrs Hobbes gut; sie hieß Miss Jones, als sie hier war. Wir sind über die Jahre in Kontakt geblieben. Sie hatte Adam sehr gern. Er war wie ein Sohn für sie und Mr Hobbes. Gott sei ihrer Seele gnädig.« Tränen traten ihr in die Augen.
Emma hätte der guten Frau am liebsten die Hände gedrückt, doch sie zögerte und so ging der Moment ungenutzt vorbei.
Mrs Prowse fuhr sich mit der Hand über die Augen und straffte die Schultern. »Aber jetzt muss ich gehen; ich habe noch viel zu tun.«
Emma nickte. »Ich sehe Sie dann später.«
Als sich die Tür hinter der Haushälterin geschlossen hatte, stand Emma mit der Dose in der Hand da, beobachtete Adam und wartete, dass er sie ansah.
Was er nicht tat.
So schaute sie sich stattdessen im Zimmer um. Dabei fielen ihr mehrere Gemälde auf, die an einer Wand hingen. Es waren Schlachtszenen. Soldaten im Kampf, Mann gegen Mann. Grauenhaft in ihrem beeindruckenden Realismus. Stammten sie von Rowan oder von Adam?
Freundlich sagte sie: »Guten Tag, Mr …« Sie hielt inne. Sie wollte ihn mit dem Respekt behandeln, den sie auch den anderen Westons entgegenbrachte. Doch erkannte er den Familiennamen überhaupt als den seinen oder war er als Adam Hobbes aufgewachsen? Sie beschloss, doch lieber seinen Vornamen zu gebrauchen – etwas, das sie sonst nicht tat, jedenfalls nicht unaufgefordert. »Darf ich näher kommen, Adam? Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Nun blickte er doch auf. Seine blauen Augen wanderten von ihrem Gesicht zu der Dose in ihrer Hand.
»Kekse?«, fragte er hoffnungsvoll.
In ihrem Bauch stieg eine kleine, kitzelnde Blase der Heiterkeit auf. »Magst du Kekse?«
Er nickte.
»Vielleicht bringe ich dir nächstes Mal welche mit. Heute habe ich dir Dominosteine mitgebracht. Kennst du das Spiel?«
Sie ging langsam durchs Zimmer und beobachtete dabei sein Gesicht, um sicher zu sein, dass er keine Angst vor ihr bekam. Sein Ausdruck blieb völlig unbewegt, deshalb war es schwer zu sagen, was er dachte oder fühlte, aber immerhin zeigte er keine Unruhe. Emma trat an einen kleinen Tisch mit Stühlen, die unter einem anderen Fenster standen. Darauf lag ein Stapel Zeichnungen, ganz ähnlich wie die, die an der Wand hingen. Sie stellte die Dose daneben.
»Komm und schau es dir an«, forderte sie ihn auf. Dabei hielt sie ihren Blick auf die Dose gerichtet, hob den Deckel ab und legte ihn beiseite.
Plötzlich stand Adam neben ihr und starrte auf die Spielsteine hinunter. »Elfenbeinstäbchen«, murmelte er.
»Dominosteine«, korrigierte sie ihn.
»Mein Pa, Mr Hobbes, spielt gern mit Elfenbeinstäbchen.«
Er setzte sich auf einen Stuhl und fing an, einen Stein nach dem anderen herauszuholen und sie in aufsteigender Ordnung aufzustellen: 0-0, 0-1, 0-2, 0-3 … dann 1-1, 1-2 und so weiter, bis alle zwanzig Steine standen.
»Wollen wir spielen?«, fragte Emma, doch er schien sie nicht zu hören.
Sofort, nachdem er alle Steine aufgestellt hatte, fing er an, sie umzustellen, dieses Mal in immer größeren Halbkreisen, wie die Zweige eines halbierten Tannenbaums: Auf den Leerstein folgte eine Reihe von zwei Steinen, 0-1 und 1-1, darunter dann eine Reihe von drei 0-2, 1-2, 2-2 und so weiter.
Emma beobachtete Adam Weston, den gebeugten Kopf, die Zungenspitze, die zwischen den Lippen erschien, die flinken Finger, und ein Lächeln trat auf ihre Lippen. Als sie seine kleinen Hände sah, überlegte sie, ob Adam vielleicht in ihr Zimmer
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