Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Ihnen ja gesagt, dass die Zwillinge es nicht gewöhnt sind, im Schulzimmer zu hocken, bis auf die paar Stunden, die Mr McShane hier ist und sie lateinische Verben konjugieren lässt und solches Zeug.«
»Sind sie denn nie zur Schule gegangen?«
»Oh doch. Einmal waren sie fort, auf einer Schule. ›Ein bewährtes, alteingesessenes Institut in dieser Gegend‹, so drückte Lady Weston es aus.«
Emma war überrascht. Bisher war nicht die Rede von einer Schule gewesen. »Ach? Wie hieß es denn?«
Lizzie verzog das Gesicht. »Keine Ahnung. Jedenfalls hat es ihnen dort absolut nicht gefallen. Ich glaube, der Rektor war sehr streng. Und die anderen Schüler ziemlich gemein. Deshalb hat Lady W. sie wieder nach Hause geholt.«
Emma erinnerte sich, dass Sir Giles in seinem Brief geschrieben hatte, Lady Weston sei der Ansicht, ihre beiden jüngsten Söhne seien zu empfindsam, um von ihrer Mutter getrennt zu werden. Sie überlegte, warum sie die beiden wohl auf eine unbekannte Schule geschickt hatte, wo Phillip doch ganz bestimmt in den höchsten Tönen vom Smallwood-Internat geschwärmt hatte. Und auch Henry Weston hatte ihren Vater mit Sicherheit nicht schlechtgemacht, ganz gleich, welche Meinung er von ihr hatte.
In Emmas Zimmer riss Lizzie den Schrank auf und betrachtete die wenigen Kleider, die darin hingen, so konzentriert, wie Emma selbst sich gewöhnlich nur einem Buch widmete. »Das ist doch bestimmt nicht alles, was Sie mitgebracht haben?«
»Doch, selbstverständlich.«
Lizzie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Sind Lehrer wirklich so arm?«, fragte sie ganz sachlich, offenbar ohne jede Kritik.
»Ich habe zu Hause noch ein paar mehr«, sagte Emma. »Aber ich konnte nur einen Koffer mitnehmen.«
Lizzie sah zu den vielen Büchern hinüber, die auf dem Beistelltischchen und auf dem Fußboden aufgestapelt waren, wo Morva sie hingelegt hatte, um die Kleider auszupacken, und sagte mit einem ironischen Grinsen: »Und die Bücher mussten natürlich mit.«
»Genau.«
Lizzie nahm das oberste Buch vom Stapel. »Ich für meinen Teil hab noch nie viel am Lesen gefunden.«
Emma scherzte: »Und ich hatte gehofft, wir könnten Freundinnen werden!«
Lizzie sah sie scharf an.
Emma beeilte sich hinzuzufügen: »Das war nur ein Scherz. Ichweiß schon, dass die meisten Frauen nicht so viel mit Büchern anfangen können wie ich.«
»Ein echter Blaustrumpf«, meinte Lizzie. »So hat Henry Sie einmal beschrieben, als er und Phillip von Ihrem Pensionat sprachen.«
Emma lächelte freudlos. »Ja, das klingt ganz nach ihm.«
Lizzie nahm einen anderen Band vom Nachttisch und Emmas Herz machte einen Satz.
»Das ist nur mein Tagebuch«, sagte sie und trat rasch zu ihr. »Das willst du gar nicht sehen.« Emma streckte die Hand aus; sie konnte sich kaum beherrschen, dem Mädchen das Heft aus der Hand zu reißen.
Bildete sie es sich nur ein oder zögerte Lizzie tatsächlich? Doch gleich darauf gab Lizzie ihr das Tagebuch mit ihrem üblichen Grübchen-Lächeln zurück.
»Oh, là, là! Bestimmt ein richtiger Roman! Welche Geheimnisse und Skandale es wohl enthält?« Sie hob in gespielter Entrüstung die Brauen. »Das wäre zur Abwechslung mal ein Buch, das ich richtig gern lesen würde!«
Emma presste das Heft an ihre Brust und machte sich in Gedanken eine Notiz, neugierig auf der Liste von Lizzie Henshaws Eigenschaften zu ergänzen.
Lizzie half ihr, ihr Lieblingskleid aus elfenbeinfarbenem Musselin mit rosa Blumen auf dem Leibchen und am Saum anzuziehen. Dann schlüpfte Emma mit den Armen in ein altrosafarbenes offenes Überkleid, das unter der Brust geknöpft wurde und am Hals und an den Ärmelbündchen mit Spitze besetzt war. Lizzie fand das altmodische Übergewand entzückend und meinte, so etwas hätte sie schon ewig nicht mehr gesehen. Emma rang sich ein Lächeln ab und dankte ihr, dann gingen sie zusammen nach unten.
Unterwegs fragte Emma beiläufig: »Phillip war doch über Ostern zu Hause, oder?«
»Ja. Fast vierzehn Tage, dann ging das Trimester wieder los.«
»Und was hat er für einen Eindruck gemacht?«
»Er hatte Heimweh.«
Emma warf dem Mädchen einen Seitenblick zu. »Er ist nicht gern auf der Universität?«
»Wer ist schon gern auf der Schule? Nichts für ungut, Miss Smallwood!«
Sie standen vor dem Büro des Verwalters, was Emma die Antwort ersparte. Ihr Vater war schon drinnen und wartete; Mr Davies schenkte gerade zwei Gläser ein.
»Das ist mein Vater, Mr Smallwood«, begann Emma. »Darf ich
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