Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Lady Weston war eine unfreundliche Frau, dachte Emma, doch dann ermahnte sie sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
»Ich hatte gehofft, dass Sie mit uns essen«, sagte Lizzie, »aber Lady W. nimmt es sehr genau mit der gesellschaftlichen Stellung. Schade. Die Mahlzeiten sind schrecklich langweilig, vor allem seit Phillip und Henry fort sind.« Sie seufzte. »Aber gut. Mr Davies ist nicht übel; allerdings hat er ein wenig zu lange Zähne und zu viele graue Haare für Sie. Aber vielleicht gefällt Ihnen Mr McShane.«
Emma runzelte die Stirn. »Miss Henshaw, ich …«
»Lizzie, bitte«, unterbrach das Mädchen sie.
»Gut, Lizzie.« Emma bot nicht an, sich ebenfalls beim Vornamen nennen zu lassen. Noch nicht. »Ich hoffe, du nimmst nicht fälschlicherweise an, dass ich wegen einer Romanze hierhergekommen bin.«
Lizzie blieb wieder stehen. »Nicht? Na, da wird Lady W. aber erleichtert sein, wenn sie das hört.«
»Warum sollte sie das überhaupt annehmen?«, fragte Emma ungläubig.
Lizzie betrachtete Emma eingehend. »Warum sind Sie denn sonst hier?«
»Um meinem Vater zu helfen, wie ich es schon lange tue. Wir … das heißt, mein Vater unterrichtet viele Fächer und ich helfe ihm dabei. Außerdem … lebt meine Mutter nicht mehr und ich wollte ihn nicht allein lassen.«
Lizzie überlegte. Dann sagte sie: »Ich verstehe.«
Emma fiel auf, dass das Mädchen nach dieser Eröffnung nicht mit empathischen Informationen über ihre eigene Eltern aufwartete, doch sie wollte nicht neugierig sein und fragte nur: »Sind wir eigentlich zu einem besonders ungelegenen Zeitpunkt gekommen?«
Lizzie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Gestern waren alle völlig aus dem Häuschen. Ich wurde auf mein Zimmer geschickt, damit ich aus dem Weg war. Es ging irgendwie um Henry.«
»Sir Giles erwähnte, er sei in Familienangelegenheiten unterwegs.«
»Ja? Keine Ahnung. Mir sagt ja nie jemand was. Sie denken, ich kann kein Geheimnis bewahren.« Sie beugte sich zu Emma hinüber und blinzelte. »Und unter uns gesagt – sie haben recht.«
Das musste Emma sich merken.
Lizzie nahm wieder Emmas Arm und führte sie einen Seitenflur entlang. »Mr Davies' Büro ist hier hinten beim Lieferanteneingang.« Das Mädchen blieb vor der offenen Tür stehen. »Da ist es.« Sie warf Emma einen ironischen Blick zu. »Und gewöhnen Sie sich bloß nicht daran, eine persönliche Begleitung zu haben. Morgen werde ich wieder meinem faulen Leben frönen.« Sie grinste und Emma musste ebenfalls grinsen.
Lizzie ließ sie stehen; Emma ging allein ins Zimmer hinein. Darin standen ein kleiner Tisch, gedeckt mit Alltagsgeschirr, und ein Buffet mit einem Kaffeespender, einer Teekanne, geschnittenem Brot, kaltem Fleisch, gekochten Eiern und Gebäck. Aus den Krümeln und dem benutzten Geschirr auf dem Tisch schloss sie, dass hier mindestens schon zwei Personen gefrühstückt hatten. Sie nahm sich eine Tasse lauwarmen Tee und ein kaltes Ei und setzte sich zu einem einsamen Mahl.
Eine halbe Stunde später stieg sie die drei Treppen ins Schulzimmer hinauf. Dort fand sie ihren Vater, er saß am Schreibtisch und blätterte in einem Buch. An einem Tisch ihm gegenüber lümmelten zwei Jungen.
Der Raum war lang und schmal; auf einer Seite hatte er eine Dachschräge mit Gaubenfenstern, von denen aus man auf ein Dach blickte. Dahinter, in der Ferne, war die Küstenlinie zu erkennen.
Ihr Vater blickte auf, als sie eintrat. »Ah, Emma, da bist du ja.« Er winkte sie heran.
Emma ging durch das Zimmer und stellte sich neben seinen Schreibtisch. Wie viele Male hatte sie diese peinliche Vorstellung schon erlebt, in Longstaple, immer, wenn neue Schüler kamen? Doch aus irgendeinem Grund fühlte sie sich in dem Schulzimmer der Westons befangener als jemals in ihren eigenen Schulräumen.
»Jungen, das ist Miss Smallwood, meine Tochter, die mich hin und wieder unterstützen wird.« Dann deutete er jeweils auf einen der beiden Fünfzehnjährigen, um sie bekannt zu machen: »Emma, darf ich dir Julian und Rowan Weston vorstellen.«
»Ich bin Rowan. Das ist Julian«, korrigierte einer von ihnen.
»Oh! Verzeihung.«
Emma sah die Jungen an. Oder vielmehr die jungen Männer. Sie sahen nicht völlig gleich aus, fiel ihr auf, aber es war leicht nachzuvollziehen, dass ihr Vater sie verwechselte. Beide hatten dunkles, kurz geschnittenes Haar und blaue Augen. Aber Julians Gesicht war runder und sein Nasenrücken wies ein paar Sommersprossen auf, dieihn jünger machten. Seine
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