Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
gekommen war, hatte er die wenigen Bücher, die er mitgebracht hatte, bereitwillig mit ihr geteilt. Sein älterer Bruder hatte das nicht getan. Und das war auch der Punkt, an den sie sich im Zusammenhang mit Henry Westons Aufenthalt bei ihnen am deutlichsten erinnerte …
Sie war elf Jahre alt gewesen, als er eintraf – vierzehn, mürrisch und gereizt. Sie hatte nur gefragt, ob sie ihm helfen solle, seine Sachen einzuräumen, magisch angezogen von dem Bücherstapel in seinem Koffer. Doch er hatte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen.
»Lass bitte meine Sachen in Ruhe. Da sind keine Puppen dabei.«
Sie deutete auf zwei kleine Kisten mit Zinnsoldaten, die auf seinem Bett lagen. »Und was ist das?«
Seine grüne Augen verengten sich und wurden hart. »Militärminiaturen. Und wenn ich höre, dass du sie anders nennst, oder herausfinde, dass du sie auch nur angefasst hast, wird es dir sehr leidtun.«
Emma schnappte nach Luft, dann erwiderte sie beleidigt: »Jetzt weiß ich, warum deine Familie dich fortgeschickt hat.«
Daraufhin hätte sie beinahe wieder nach Luft geschnappt – sie konnte kaum glauben, dass sie das wirklich gesagt hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Gemeinheit geäußert und schon gar nicht einem neuen Schüler gegenüber. Was war nur in sie gefahren? Sein kalter Hochmut und seine Grobheit waren zwar irritierend, ja, aber keine Entschuldigung. Bis jetzt war es ihr noch immergelungen, ihre Zunge im Zaum zu halten, ganz gleich, wie sehr sie auch provoziert worden war.
Eine Sekunde lang schien so etwas wie eine Schutzschicht von seinen Augen zu gleiten und sie erkannte dahinter eine unerwartete Verletzlichkeit. Doch im nächsten Moment wirkten seine Augen schon wieder eiskalt und er presste die Lippen fest zusammen. Dann schlug er ihr die Tür vor der Nase zu und ließ sie allein im Flur stehen.
Eine Mädchenstimme unterbrach Emmas Erinnerungen. »Machen Sie denn überhaupt nicht mehr Schluss?«
Emma drehte sich um und sah Lizzie in der Tür des Schulzimmers stehen, Grübchen in den Wangen.
»Wie pflichtbewusst Sie sind«, fuhr Lizzie fort. »Immer noch am Arbeiten, obwohl die Männer längst gegangen sind. Ich dachte, Ihr Vater hatte beschlossen, heute nur den halben Tag Unterricht zu halten.«
Emma sah sich um und runzelte die Stirn. »Wie spät ist es denn?«
»Vier Uhr vorbei. Sie haben den Tee verpasst und kommen zu spät zum Abendessen, wenn Sie jetzt nicht gehen und sich umziehen.«
Emma erhob sich von den Knien, die ganz steif waren und schmerzten. »Umziehen?«
»Ja, wir ziehen uns hier zum Abendessen um, auch wenn wir im unzivilisierten Cornwall leben«, neckte Lizzie sie. »Und in Ihrem Fall ist es auch nötig, Sie haben Staub am Saum und auf den Wangen.«
Bestürzt legte Emma eine Hand an ihre Wange.
Lizzie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und reichte es ihr; dabei deutete sie auf einen winzigen Fleck auf ihrer eigenen Wange, gleichsam als Wegweiser.
Emma wischte den Fleck fort. »Weg?«
»Besser.« Lizzie griff nach ihrer Hand. »Kommen Sie, ich helfe ihnen, das Kleid zu wechseln. Wer weiß, wo Morva um diese Tageszeit ist!«
»Aber musst du dich denn nicht auch umziehen?«
»Oh, ich habe noch genügend Zeit«, erklärte Lizzie. »Die Familie diniert später.«
»Ah.« Also gehörte Lizzie zur Familie.
Auf dem Weg nach unten in ihr Zimmer hörte Emma, wie Lady Weston ihre beiden Söhne auf dem Treppenabsatz begrüßte.
Lizzie hielt sie am Arm fest und legte einen Finger auf die Lippen. »Schhhh …«
»Und wie war euer erster Tag mit dem neuen Lehrer?«, fragte Lady Weston.
»Todlangweilig, Mama«, antwortete Rowan mit seiner leisen Stimme.
»So schlecht war es auch wieder nicht«, meinte Julian. »Und Miss Smallwood scheint sehr nett zu sein.«
Rowan fügte hinzu: »Jedenfalls netter als ihr vertrockneter alter Vater.«
Sir Giles war zu hören: »Rowan, hüte deine Zunge. Mr Smallwood ist ein gebildeter Gentleman, der einen ausgezeichneten Ruf genießt. Er verdient euren Respekt.«
»Was bedeutet das schon?«, warf Lady Weston ein. »Also wirklich, mein Lieber. Du darfst Rowan nicht dafür tadeln, dass er seine Meinung sagt.«
Emma war froh, dass ihr Vater nicht neben ihr stand und das Gespräch mit anhörte. Mit schlechtem Gewissen, weil sie lauschte, bedeutete sie Lizzie weiterzugehen. Diese gab nach und folgte ihr leise den Flur entlang.
Als sie um die Ecke gebogen waren, flüsterte Lizzie: »Machen Sie sich nichts draus. Ich habe
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