Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
völlig gleichgültig. Sie wollte nicht zugeben, dass sie sich wohl bewusst war, dass sie mit den Schülern ihres Vaters allein im Haus und ganz auf sich gestellt sein würde, falls einer von ihnen beschloss, sie zu ärgern oder ihr einen Streich zu spielen. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Phillip Weston anwesend war, und seine Neckereien und Streiche störten sie im Grunde nicht, ja eigentlich gefielen sie ihr sogar. Er war fünfzehn – nicht ganz ein Jahr jünger als sie – und ein höchst liebenswürdiger junger Mann. Er würde nicht zulassen, dass die anderen ihr Probleme machten, dachte sie.
Hoffte sie.
Doch ihr Vater war noch keine Viertelstunde fort, als die vier Jungen ihrem pädagogisch wertvollen Spiel schon keinen Blick mehr schenkten. Es war Winter und früh dunkel geworden. Die Kerzen brannten bereits seit mehreren Stunden und die Jungen tobten auf Socken durch das Zimmer und das ganze Haus, löschten die Kerzen und Petroleumlampen und lachten und scherzten miteinander.
Emma war in Alarmbereitschaft. Aus dem Wohnzimmer gebot sie: »Jungen, hört sofort damit auf.«
»Wir brauchen nicht auf dich zu hören«, hatte einer der Schüler, ein Frank Williams, gesagt. »Du bist kaum älter als wir, Emma, also nenn uns nicht ›Jungen‹!«
»Ich nenne Sie, wie ich will, Mr Williams«, schnaubte Emma. »Und für Sie heißt es Miss Smallwood .«
Es zischte. Irgendjemand hatte die Lampe hinter ihr ausgeblasen, das Zimmer war stockdunkel. Mrs Malloy hatte kein Feuer im Kamin angezündet. Wo war Mrs Malloy überhaupt? Emma war überrascht, dass die so überaus vernünftige Köchin und Haushälterin nicht sofort mit einem brennenden Span ins Zimmer stürzte, die Lampe wieder anzündete und den Jungen eine mahnende Standpauke hielt, dass sie sich wie Gentlemen zu benehmen hatten und nicht wie wilde Tiere.
Doch dann fiel ihr ein, dass Mrs Malloy die Sonntagabende bei ihrer alten Mutter in der High Street verbrachte. Hatte Emmas Vater vergessen, dass dies ihr freier Abend war?
Emma straffte sich, nahm die Schultern zurück und rief sich ins Gedächtnis, dass nur ein kühler, unnahbarer Ton die Jungen im Zaum halten und ihr Respekt verschaffen konnte. Mit ihrer autoritärsten, erwachsensten Stimme sagte sie: »Ich bestehe darauf, dass ihr die Lampen sofort wieder anzündet und aufhört, durch das Haus zu laufen.«
»Wir spielen doch nur Verstecken«, flüsterte eine Stimme neben ihrem Ohr. Sie erschrak, beruhigte sich aber, als sie Phillip Westons Stimme erkannte. »Sie wollen uns doch nicht ein so unschuldiges Vergnügen versagen, oder?«
Das Flüstern kitzelte sie im Nacken, wo sie ihr Haar zusammengesteckt hatte. »Ich …«, zögerte sie, doch ihr Protest erstarb rasch.
»Em-ma …« Er zog ihren Namen in zwei lange, gedehnte Silben; sein Atem verursachte ihr eine Gänsehaut. Als seine warmen Hände sie um die Taille fassten, sprang sie vor Überraschung auf. Seine Hände wichen zurück, blieben aber dicht bei ihr, glitten über den Stoff ihres Kleides. Als sie sich ihnen nicht entzog, legten sie sich wieder um ihre Taille.
Draußen auf dem Flur huschten bestrumpfte Füße über den Fußboden. Emma versteifte sich, doch wer immer es war, hastete vorüber, gefolgt vom Geräusch zweier aufeinanderprallender Körper.
»Hab dich gefunden, Frank!«, rief eine jugendliche Stimme triumphierend.
»Umgerannt, meinst du.«
»Jetzt muss Frank suchen!«
Phillips Hände verstärkten ihren Griff um Emmas Taille. Obwohl ihrer beider Haut durch viele Schichten Stoff getrennt war, durchlief sie ein verbotener Schauer. Wenn jemand anders versucht hätte, sie zu berühren, hätte sie sich ohne Zögern gewehrt und ihm eine Abreibung verpasst, die er so schnell nicht vergessen hätte. Doch dies war Phillip Weston, ihr Freund, der so plötzlich mehr als nur einFreund zu sein schien. Wie geheimnisvoll, wie aufregend war es, hier mit ihm im dunklen Zimmer zu stehen, in dem Wissen, von anderen umgeben zu sein, die sie nicht sehen konnten. Emma wusste, dass sie sich ihm entziehen musste, und sie würde es ja auch … nur noch eine Minute …
»Emma, bist du noch hier drin?« Das war Franks Stimme. Er spähte in den Raum. »Ich finde dich.«
Jetzt zog Phillip sie näher an sich, der näher kommenden Gestalt aus dem Weg. Sie wandte sich zu ihrem Entführer um, unsicher, ob sie ihn wegstoßen sollte oder …
Er ließ sie los, legte ihr die Hand auf den Mund und flüsterte ihr leise ins Ohr: »Schhhh.«
Die Schritte
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