Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
noch einen Moment liegen. Sie spürte, wie der berauschende Sog des Traums dahinschwand, wollte aber nicht einen einzigen Augenblick davon versäumen. Wie Honig, süß und gefährlich klebrig zugleich.
Wie schamlos sie doch war – zu wünschen, dass das Gefühl anhielt! Jene Nacht in Longstaple war lange vorbei. Im wirklichen Leben konnte sie Phillip nicht küssen. Und wahrscheinlich wollte er es auch gar nicht mehr. Aber war es so schlecht von ihr zu wünschen, dass das Gefühl trotzdem andauerte? Es zu genießen, zu spüren, wie es ihre Sinne mit einer Schwermut erfüllte, einer angenehmen Unruhe, als hätte sie etwas vergessen? Ja, wahrscheinlich war es unrecht. Aber sie wollte trotzdem nicht, dass es verging.
Morva bückte sich, um etwas vom Boden aufzuheben, und betrachtete es. »Für Sie, Miss. Sieht aus, als hätte es jemand unter der Tür durchgeschoben, während Sie schliefen.«
Komisch , dachte Emma, streckte jedoch die Hand nach dem gefalteten Stück Papier aus.
Morva reichte es ihr und sah sie erwartungsvoll an, aber Emma ignorierte sie und konzentrierte sich auf den Brief. Er war perfekt gefaltet, aber nicht versiegelt. Sie drehte ihn um. Tatsächlich, da stand ihr Name, in schönster Deutlichkeit: Miss Smallwood .
Ihre Neugier siegte über ihre Bedenken, dass sie zu spät zum Frühstück kam. Vielleicht waren es ja ein paar liebe Zeilen von Phillip? Oder ein Verweis von Henry, weil er gesehen hatte, dass sie gestern Nacht im Nordflügel war? Sie faltete das Blatt auf und sah die flüssige Handschrift, die Ober- und die Unterlängen absolut gleichmäßig und präzise. Sie las:
Liebe Miss Smallwood,
ich dachte, es sei an der Zeit, dass Sie einen echten Liebesbrief bekommen. Ich bin zu schüchtern, um Ihnen meine Gefühle von Angesicht zu Angesicht zu gestehen, aber Sie sollen wissen, wie sehr ich mich freue, dass Sie bei uns sind. Sie haben einen leidenschaftlichen Bewunderer hier auf Ebbington Manor.
Ich werde Sie im Blick behalten, denn ich könnte in alle Ewigkeit Ihre grünen Augen und süßen Lippen betrachten.
Ihr geheimer Bewunderer
Was um alles in der Welt bedeutete das? Emma spürte, wie ihr Magen in Aufruhr geriet und Alarm schlug – wohl nicht unbedingt die Reaktion, die sich der Schreiber des Briefes erhofft hatte. Oder vielleicht doch? Sie las noch einmal die Zeile » Ihre grünen Augen und süßen Lippen « und spürte, wie ihre Wangen ganz heiß wurden. Wer hatte das geschrieben? Fühlte Phillip sich von ihr angezogen, wie in ihrem Traum? Er hatte jedenfalls keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich freute, sie wiederzusehen. Aber » leidenschaftlicher Bewunderer «?
Die Handschrift sagte ihr nichts, doch es war immerhin drei Jahre her, seit sie Phillips Handschrift gesehen hatte. Konnte es sein, dass er sie wirklich heimlich verehrte?
Emma sah, dass Morva sie beobachtete, und faltete den Brief rasch zusammen. Dann stand sie auf und fing an, sich zu waschen. Dabei war sie sich bewusst, dass der forschende Blick des Hausmädchens jeder ihrer Bewegungen folgte.
Morva half ihr in ein Tageskleid aus gemustertem Musselin mit einem grünen Besatz am Hals und an den Ärmeln; dann endlich ging sie und ließ Emma allein.
Nun konnte Emma den Brief ein zweites Mal lesen. Sie fühlte sich zurückversetzt in Tante Janes Haus, in eine Zeit vor ein paar Jahren, als sie, ein junges Mädchen mit dem Kopf voller romantischer Flausen, zum ersten Mal den Brief entdeckt hatte, der bei ihrer Tante auf dem Nachttisch lag.
»Von wem ist der Brief, Tante Jane?«, hatte Emma sie geneckt. »Doch nicht von einem geheimen Bewunderer?«
»In der Tat«, antwortete Jane. »Allerdings ist seine Identität kein Geheimnis. Er heißt Mr Delbert Farley aus Bodmin.« Jane deutete mit dem Kinn auf den Brief. »Du darfst ihn gern lesen, wenn du willst.«
Emma hatte den Brief gelesen. Eigentlich hatte sie nicht viel erwartet, aber dann war sie doch beeindruckt. »Das ist ein guter Brief, Tante Jane. Ein sehr guter Brief. Woher kennst du diesen netten Mr Farley?«
»Ich habe ihn vor ein paar Monaten in einer Buchhandlung kennengelernt«, sagte Jane. »Ich war zufällig in der High Street und bin hineingegangen, um ein wenig herumzustöbern. Als ich ein neues Buch über Dampfmaschinen durchblätterte, fiel mir auf, dass mich ein Gentleman beobachtete. Da ich dachte, er sei ebenfalls an dem Buch interessiert, wollte ich es ihm geben, doch er sagte, er würde nur gern wissen, warum eine so ›reizende Dame‹
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