Die Tochter des Ketzers
das er gewöhnlich um den Kopf gebunden hatte, fehlte. Struppig standen seine Haare davon ab, ein befremdlicher Anblick.
»Ray!«
Gaspare zuckte die Schultern zum Zeichen, dass auch er ihn nicht gesehen hatte. Mehrmals hinkte Caterina den Strand auf und ab – aber Ray blieb verschwunden.
»Er hat sich aus dem Staub gemacht, so sieht’s aus«, stellte Gaspare nüchtern fest. Eine Weile hatte er ihre Suche schweigend verfolgt, nun machte er eine wegwerfende Geste, zum Zeichen, dass sich diese nicht lohnen würde. »Er denkt wohl, er wäre ohne uns besser dran«, fügte er hinzu, »und vielleicht hat er sogar recht.«
Sein zweifelnder Blick traf Caterinas Bein. Sie selbst achtete wenig auf das Humpeln, spürte gar keinen Schmerz mehr darin, so heftig war ihre Empörung – weil Ray sie einfach allein gelassen hatte und ein wenig weil Gaspare einen so scheußlichen Verdacht aussprach.
»Ray hätte mich nie im Stich gelassen!«, rief sie unwillkürlich.
»Was macht dich so sicher, dass es nicht so ist? Traust du ... traust du diesem Burschen etwa?«
Gaspare sprach nicht triumphierend, eher mitleidig.
Caterina rang kleinlaut die Hände. »Ich weiß es nicht, aber ... aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Gewiss ist er ein Schuft und Betrüger, der ...«
»Der keine Skrupel kennt und keine Bindung«, fiel er ihr ins Wort.
»Was maßt ausgerechnet du dir ein Urteil an?«
»Mir ist es gleich, wohin er verschwunden ist und warum. Aber dir scheint daran gelegen ... und dich frage ich also: Was bedeutet er dir?«
Caterina blickte zu Boden. Ihre Schritte hatten Fußabtritte im Strand hinterlassen; die von Ray hingegen waren nicht mehr zu erkennen, längst fortgespült vom trüben Wasser.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie schlicht und humpelte zurück zur Feuerstelle.
Anders als Ray ließ Gaspare sie nicht allein, sondern gab vorerst den Plan auf, das Land zu erkunden. Besser war’s abzuwarten, bis ihr Bein geheilt war, schlug er ihr vor, dann könnten sie miteinander von hier fortgehen, nach Menschen suchen, nach dem nächsten Dorf.
Schulterzuckend fügte sie sich, wollte die Hoffnung nicht laut bekunden, die da in ihr aufblitzte – dass Ray gewiss zurückkehren würde, wenn sie nur hier, an jenem Ort, wo sie gestrandet waren, warteten.
Doch der Tag verging, fortwährend diesig, schließlich in der Dämmerung vermodernd, ohne dass sich jemand ihrer Feuerstelle genähert hätte. Stumpfsinnig blickte Caterina in die Flammen und begann trotz der Wärme zu frieren.
Gaspare bemerkte ihr Beben. »Ich hoffe, du hast kein Fieber«, murmelte er. Er sah sie ehrlich besorgt an, aber er hob nicht die Hand, um die Temperatur ihrer Stirne zu fühlen, so wie Ray es wohl getan hätte.
Schlimmer noch, als ihn zu vermissen, war, sich einzugestehen, wie sehr sie es tat – vor allem am Abend, in der Dunkelheit, da Gaspare sich auf der anderen Seite des Feuers zur Ruhe bettete, zumindest, soweit es auf dem steinig-sandigen Boden, von dem kalt die Meeresfeuchte hochstieg, möglich war.
Ratlos sah Caterina ihm dabei zu, überlegte kurz vorzuschlagen, dass es besser wäre, näher beisammen zu liegen, so wie Ray und sie es immer getan hatten, um sich gegenseitig Wärme zu spenden. Doch dann schwieg sie, gewiss, dass Gaspares knöcherner Leib ihr ohnehin nicht so etwas wie Geborgenheit schenken konnte.
Wenn sie mit ihm sprach, wenn sie seinen toten Blick suchte, ein Gefühl dahinter ahnte, gar eine Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Geschick – dann, ja dann fühlte sie sich ihm nahe, viel näher, als sie Ray je sein konnte, der sein Leben nicht ähnlich nüchtern zu betrachten und zu deuten vermochte, der sämtliche
Schläge, die es ihm eintrug, mit Gereiztheit, mit Unruhe beantwortete, nicht mit diesem stillen, trotzigen Weltschmerz.
Aber wenn sie schweigend nebeneinandergelegen hatten, dann hatte Ray ihr Geborgenheit und Vertrautheit geschenkt, nicht mit Worten, allein mit seinem tröstenden, wärmenden Leib und der Selbstverständlichkeit, mit der er sie hielt.
Während sie mit offenen Augen dalag, gewiss, dass nicht nur der Schmerz in ihrem Bein den Schlaf fernhielt, wurde ihr die Kehle eng. Nicht weinen, befahl sie sich, um sich vor dem ganzen Ausmaß des Jammers zu schützen, nicht weinen.
Mit Mühe konnte sie ihre Tränen verkneifen.
Öde waren die beiden Tage, die folgten. Caterina verbrachte sie damit, indem sie entweder nach Ray Ausschau hielt oder ihr Bein anstarrte, das eine mit zunehmender
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