Die Tochter des Magiers
»Wenn du es nicht mehr könntest … das Zaubern und das
andere?«
»Wenn ich eines Morgens aufwachte und alles sei vorbei? Wenn
nur noch der ganz gewöhnliche Alltag bliebe?« Roxanne überlegte und
lachte dann. Mit einundzwanzig war die Vorstellung, daß man jemals alt
werden könnte, fast absurd. »Meinen Kopf in den ersten verfügbaren
Gasherd stecken.«
»Sag so was nicht.« Lily packte ihre Hand und drückte sie so
fest, daß es schmerzte. »Sag das nie, nie wieder.«
»War doch nur ein Witz«, erwiderte Roxanne überrascht. »Du
müßtest mich besser kennen. Leute, die so etwas machen, haben
vergessen, daß nichts für immer dauert. Ganz egal, wie wundervoll oder
wie schrecklich etwas ist, irgendwann ist es vorbei.«
»Natürlich.« Lily ließ sie los, aber ihre Kehle war wie
zugeschnürt. »Hör nicht auf mein Gerede. Ich glaube, ich bin nur
übermüdet.«
Als Roxanne sie näher anschaute, sah sie trotz Lilys
sorgfältigem Make-up die leichten Schatten unter ihren Augen. »Ist
alles in Ordnung? Fühlst du dich nicht gut?«
»Doch, doch.« Niemand sollte merken, was in ihr vorging. »Nur
müde und – ach, es ist albern, aber ich glaube, ich habe ein
bißchen Heimweh. Ich habe schon seit Tagen Sehnsucht nach LeClercs
Gumbo.«
»Ich weiß, was du meinst«, lächelte Roxanne, denn ihr selbst
erging es nicht anders. »Trotz des großartigen Essens hier würde man
nach ein paar Wochen hundert Dollar für einen Cheeseburger und Fritten
geben und zehnmal soviel für einen Tag, an dem man mal mit niemandem
reden muß.«
Lily merkte, daß sie unbedingt allein sein mußte, ehe sie doch
noch die Fassung verlor. »Also, ich stehle mich jetzt davon.« Mit einem
Zwinkern küßte sie Roxanne auf die Wange. »Ich husche für eine Stunde
runter in die Kabine, gönne mir eine Gesichtsmaske, ein Fußbad und ein
Kapitel aus meinem Liebesroman.«
»Ach, du machst mich richtig neidisch.«
»Ich will dir was sagen. Wenn du solange für mich einspringst,
revanchiere ich mich in einer Stunde.«
»Abgemacht. Falls jemand fragt, sage ich, du nähst neue
Pailletten auf dein Kostüm.«
»Das ist eine gute Ausrede.« Lily eilte davon.
Roxanne blickte sich auf dem Deck um. Neue Gesichter, dachte
sie, lauter neue Gesichter. Sie hatte immer gern Abwechslung gehabt,
aber jetzt wünschte sie sich, Luke wäre bei ihr. Es machte viel mehr
Spaß, mit ihm gemeinsam die Neuankömmlinge zu beobachten und zu jedem
Namen und Geschichten zu erfinden.
Mit einem einstudierten Lächeln drehte sie sich um, als jemand
ihren Namen rief – und erstarrte für einen Moment, ehe sie
sich wieder gefangen hatte. Sie war schließlich ein Profi. »Sam. Wie
klein die Welt doch ist!«
»Nicht wahr?« Er sah aus, als sei er geradewegs einem Bericht
über die passende Bekleidung auf Kreuzfahrten im Gentleman's Quarterly entstiegen. Seine gelbbraunen Hosen hatten
messerscharfe Bügelfalten, sein Leinenhemd war eines von der Sorte, die
mit Absicht zerknittert aussahen und ein Vermögen kosteten, und an den
Füßen trug er Docksiders. Er hatte den Arm um eine schlanke, elegante
Blondine gelegt. Sie trug bauschige Seidenhosen in einem leuchtenden
Blau, das zu ihren Augen paßte, dazu eine weich fallende Bluse in
gleicher Farbe. Roxanne musterte beeindruckt die einreihige Perlenkette
und den Ring mit dem daumengroßen Saphir.
»Justine, mein Schatz, ich möchte dir eine liebe alte Freundin
vorstellen, Roxanne Nouvelle. Roxanne, meine Frau, Justine Spring
Wyatt.«
»Wie nett.« Justines Lächeln war freundlich, doch ihre Augen
blieben kühl. Rasch schüttelte sie ihr die Hand.
»Ist mir ein Vergnügen.« Die perfekte Frau eines Politikers,
dachte Roxanne und betrachtete ihre Ohrringe, die aus zwei
tränenförmigen, indigoblauen Steinen an schimmernden Perlen bestanden.
»Ich bin erstaunt, dich hier zu sehen«, meinte Sam. »Und
doppelt überrascht, daß du zum Personal gehörst.« Sein Blick streifte
das Namensschild an ihrer Brust und verweilte dort ein wenig, ehe er
wieder aufschaute. »Hast du mit der Zauberei aufgehört?«
»Absolut nicht. Wir geben Vorstellungen an Bord.«
»Fabelhaft.« Er hatte es natürlich längst gewußt. Und der
Gedanke, eine Woche mit den Nouvelles zu verbringen, war
unwiderstehlich gewesen. »Roxanne ist nämlich eine ganz ausgezeichnete
Zauberin, Justine.«
»Wie interessant.« Ihre Zähne blitzten, als sie ein wenig
gönnerhaft lächelte. »Geben Sie auch Vorstellungen auf
Kindergeburtstagen?«
»Noch nicht.«
Weitere Kostenlose Bücher