Die Tochter des Magiers
draußen vor
den Toren hörte man das stetige Brausen des Verkehrs. Die Sonne schien,
und eine leichte Brise raschelte in den ersten Blättern der Bäume.
Irgendwo in der Nähe spielte ein Flötenspieler eine alte irische
Melodie. ›Danny Boy.‹ Roxanne zitterte, da sie das Lied kannte. Es
handelte von Tod und Verlust.
»Ich habe ihn zum Arzt geschleppt.« Lily drückte ihre Hand.
»Max konnte sich noch nie ernsthaft gegen mein Genörgel zur Wehr
setzen. Es wurden ein paar Test gemacht, und ich mußte ihn beschwatzen,
noch einmal dorthin zu gehen, damit weitere Untersuchungen gemacht
werden konnten. Er wollte nicht ins Krankenhaus, wo man alles auf
einmal hätte erledigen können. Und ich … ich habe nicht darauf
gedrängt. Ich wollte auch nicht, daß er in eine Klinik geht.«
»Welche Untersuchungen?« fragte Roxanne. Ihre Stimme klang ihr
selbst ganz fremd.
»Alles mögliche. So viele, daß ich es gar nicht behalten habe.
Sie haben ihn an Geräte angeschlossen und die Kurven studiert. Sie
haben Blut- und Urinproben genommen und ihn geröntgt.« Sie zuckte
hilflos mit den Schultern. »Vielleicht war es falsch, Roxy, aber ich
habe sie gebeten, es mir zu sagen, wenn sie was herausfinden. Ich
wollte nicht, daß man es Max mitteilt, falls es etwas Schlimmes sei.
Ich weiß, du bist seine Tochter, aber ich …«
»Es war schon richtig.« Roxanne legte ihren Kopf an Lilys
Schulter. Sie brauchte eine Minute, bis sie genügend Mut gefaßt hatte.
»Es ist etwas Schlimmes, nicht? Du mußt es mir sagen.«
»Er wird immer vergeßlicher werden«, sagt Lily mit bebender
Stimme. »An manchen Tagen wird alles ganz in Ordnung sein, und an
anderen wird er sich selbst mit Medikamenten nicht konzentrieren
können. Man hat mir gesagt, es könne sein, daß diese Erkrankung ganz
langsam verläuft, aber wir sollten uns darauf einrichten, daß es Zeiten
geben kann, an denen er sich nicht mal mehr an uns erinnert.« Tränen
liefen ihr über die Wangen. »Es könnte passieren, daß er wütend wird
und sich gegen unsere Hilfe wehrt. Genausogut kann es aber sein, daß er
einfach stillschweigend tut, was man ihm sagt. Es könne vorkommen, daß
er in den Laden um die Ecke geht, um Milch zu holen, und nicht mehr
heimfindet. Er kann sogar vergessen, wer er ist, und wenn die Krankheit
weiter fortschreitet, kann er sich eines Tages endgültig in seine
eigene Welt zurückziehen, wo ihn niemand mehr erreicht.«
Ein solcher Zustand war schlimmer, viel schlimmer als der Tod,
so erschien es Roxanne. »Wir … wir müssen mit ihm zu
Spezialisten.«
»Der Arzt hat uns einen empfohlen. Ich habe ihn angerufen. Wir
könnten Max nächsten Monat zu ihm nach Atlanta bringen.« Lily griff
nach einem ihrer Spitzentücher und wischte sich die Augen. »Bis dahin
will er sämtliche Untersuchungsergebnisse studieren. Die Krankheit
heißt Alzheimer, Roxy, und ist unheilbar.«
»Dann werden wir selbst ein Heilmittel finden. Wir lassen
nicht zu, daß das mit Max passiert.« Sie sprang hastig auf und wäre
fast gestürzt, wenn Lily sie nicht festgehalten hätte.
»Schatz, du meine Güte, Liebling, was ist denn? Ich hätte es
dir nicht so unverblümt sagen sollen.«
»Doch, ich bin nur zu rasch aufgestanden.« Aber das
Schwindelgefühl hielt immer noch an, und die Übelkeit schnürte ihr den
Magen zusammen.
»Du bist so blaß! Komm, wir gehen rein, und ich mache dir
einen Tee.«
»Mir geht's gut«, behauptete Roxanne. »Es ist bloß irgendein
blöder Virus.« Aber Lily zog sie energisch mit sich ins Haus. Kaum
waren sie in der Küche, roch sie den Duft der herzhaften Suppe, die
LeClerc gerade kochte. Sie wurde regelrecht grün im Gesicht. »Verdammt.
Ausgerechnet jetzt«, stöhnte sie. Gefolgt von der aufgeregten Lily
rannte sie zum Bad.
Nachdem sie sich übergeben hatte, war sie so erschöpft, daß
sie nicht protestierte, als Lily sie ins Bett brachte und darauf
bestand, daß sie sich hinlegte.
»Das sind nur diese ganzen Sorgen«, tröstete Lily.
»Es ist irgendein Virus.« Roxanne schloß die Augen und hoffte,
daß ihr Magen jetzt leer war und nicht noch mehr hochkam. »Dabei dachte
ich, es wäre wieder vorbei. Genau das gleiche ist mir gestern
nachmittag schon passiert. Und abends ging es mir wieder prima. Heute
morgen auch.«
Lily tätschelte ihre Hand. »Wenn du jetzt gesagt hättest, dir
sei an zwei Tagen hintereinander morgens schlecht
gewesen, hätte ich glatt gedacht, du wärst schwanger.«
»Schwanger!« Roxanne hätte am liebsten gelacht,
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