Die Tochter des Magiers
die Max immer am
liebsten gehabt hatte. An der Terrassentür war ein Spezialschloß
angebracht worden, um zu verhindern, daß er allein das Zimmer verließ.
Den Rat eines Arztes, die Fenster vergittern zu lassen, hatte sie
empört abgelehnt und statt dessen neue Spitzengardinen aufgehängt.
Ihr Vater mochte seiner Krankheit hilflos ausgeliefert sein,
aber sie wollte ihn nicht zu einem Gefangenen in seinem eigenen Zuhause
machen.
Sie freute sich, daß gedämpftes Sonnenlicht zum Fenster
hereinströmte und leise Musik von Chopin erklang, als sie das Zimmer
betrat. Früher hatte es ihr beinahe das Herz zerrissen, wenn er sie
nicht erkannte. Doch inzwischen hatte sie sich mit dieser bedrückenden
Situation abgefunden und akzeptieren gelernt, daß es gute Tage gab und
schlechte. Erleichtert sah sie, daß er an seinem Schreibtisch saß und
geduldig seine Übungen mit einigen weichen Bällen machte, damit seine
Hände nicht vollkommen bewegungsunfähig wurden.
»Guten Morgen, Miß Nouvelle.« Die Schwester der ersten Schicht
legte ihr Buch zur Seite und lächelte Roxanne zu. »Mr. Nouvelle übt ein
wenig vor seiner Therapie.«
»Danke, Mrs. Fleck. Wenn Sie zehn oder fünfzehn Minuten Pause
machen möchten? LeClerc hat frischen Kaffee für Sie.«
»Ich könnte einen vertragen.« Mrs. Fleck lächelte Roxanne zu
und verließ das Zimmer.
»Hallo, Daddy.« Roxanne ging zum Schreibtisch und küßte ihren
Vater auf die Wange. Er war so entsetzlich mager, daß sie sich oft
fragte, wie die Haut noch dem Druck der Knochen standhielt. »Es ist ein
schöner Tag. Hast du schon mal nach draußen geschaut? Alle Blumen
blühen, und Mouse hat den Springbrunnen im Hof angestellt. Vielleicht
möchtest du später gern ein wenig draußen sitzen?«
»Ich muß üben.«
»Ja, natürlich.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und
beobachtete, wie seine verkrümmten Finger sich mit den Bällen abmühten.
Und dabei hatte er einst mit einem Fingerschnippen die unglaublichsten
Zaubertricks zustande gebracht. Aber es war besser, gar nicht erst
daran zu denken. »Die Vorstellung lief gut. Das Finale war besonders
gelungen. Oscar macht sich bestens, und nicht mal mehr Lily ist in
seiner Nähe nervös.«
Sie redete weiter, ohne eine Antwort zu erwarten. Wenn Max mit
irgend etwas beschäftigt war, schaute er nur selten einmal auf. »Wir
sind mit Nate im Zoo gewesen. Er hatte einen Riesenspaß. Aus dem
Schlangenhaus hätte ich ihn fast nicht mehr rausgekriegt. Er wächst so
schnell, Daddy. Manchmal kann ich es kaum glauben, daß er mein Sohn
ist. Ist dir das bei mir auch so gegangen, daß du dich gewundert hast,
wie rasch so ein kleiner Mensch groß wird und eine ganz eigenständige
Persönlichkeit?«
Einer der Bälle fiel zu Boden. Roxanne hob ihn auf und kauerte
sich neben Max, so daß sie ihm in die Augen schauen konnte.
Max wich ihrem Blick unruhig aus, aber sie wartete geduldig,
bis er sie wieder anschaute.
»Hast du dir auch die ganze Zeit über Sorgen gemacht?« fragte
sie leise. »Trotz der ganzen alltäglichen Routine hat man im Hinterkopf
doch dauernd Angst, etwas falsch zu machen oder eine falsche
Entscheidung zu treffen. Und ich kann mir denken, das bleibt auch so,
nicht wahr? Ein Kind zu haben, ist wundervoll und gleichzeitig so
beängstigend.«
Langsam begann Max zu lächeln. Für Roxanne war es, als gehe
die Sonne auf. »Du bist sehr schön«, sagte er und streichelte ihr übers
Haar. »Ich muß jetzt üben. Möchtest du gern in die Vorstellung kommen
und zusehen, wie ich eine Frau zersäge?«
»Ja.« Sie beobachtete, wie er mit den Bällen hantierte. »Das
wäre schön.« Sie wartete einen Moment. »Luke ist wieder da, Daddy.«
Er schien weiter auf seine Bälle konzentriert zu sein, doch
sein Lächeln verschwand. »Luke«, sagte er nach einer langen Pause.
»Luke.«
»Ja. Er möchte dich gern sehen. Ist es dir recht, wenn er dich
besuchen kommt?«
»Ist er aus dieser Kiste rausgekommen?« Max' Gesichtsmuskeln
zuckten. Die Bälle entglitten ihm und hüpften davon. »Ist er
rausgekommen?« wiederholte er beunruhigt.
»Ja, es geht ihm wirklich gut. Ich sehe ihn nachher. Soll ich
ihn herbringen? Möchtest du das?«
»Nicht wenn ich übe.« Max wurde immer aufgeregter. »Ich muß
üben. Wie soll ich es sonst schaffen, wenn ich nicht übe?«
»Schon gut, Daddy.« Um ihn zu beruhigen, hob Roxanne die Bälle
auf und legte sie vor ihn auf den Tisch.
»Ich will ihn sehen«, murmelte Max. »Ich will ihn sehen, wenn
er aus der
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