Die Tochter des Magiers
Gespräche
verstummten, wenn sie in ein Zimmer kam, und spürte die traurigen
Blicke hinter ihrem Rücken. Sie versuchte, es ihnen nicht übelzunehmen,
daß sie sie nicht verstanden. Sie wußten ja nicht, wie allein sie sich
damals gefühlt hatte, schwanger und verlassen. Na ja, wirklich allein
bin ich vielleicht nicht gewesen, sagte sie sich, während sie Nathaniel
beobachtete, der im Hof mit seinen Autos spielte. Sie hatte eine
Familie gehabt, ein Zuhause, war rückhaltlos von allen unterstützt
worden.
Trotzdem konnte sie nicht vergessen, was Luke ihr angetan
hatte. Lieber wollte sie zur Hölle fahren, als ihn jetzt auch noch zu
belohnen und ihr Kind mit ihm teilen. Überhaupt, wer konnte sagen, wie
sich das auf Nate auswirken würde? Es war viel zu riskant.
Warum sahen die anderen das nicht ein?
Sie schaute auf, als die Küchentür sich öffnete, und lächelte
Alice zu, die in den Hof kam. Wenigstens eine Verbündete, dachte
Roxanne. Alice kannte Luke nicht und hatte keine emotionale Bindung zu
ihm. Sie würde ihr sicher recht geben, daß eine Mutter vor allem ihr
Kind beschützen mußte. Und sich selbst.
»Ein böser Unfall«, meldete Nathaniel.
Interessiert sah Alice zu ihm hin. Das dünne blonde Haar fiel
ihr ins Gesicht. »Sieht schauerlich aus«, nickte sie. »Ruf besser die
Polizei.«
»Die Polizei!« krähte Nathaniel begeistert und begann, wie
eine Sirene zu heulen.
»Das ist der dritte Unfall in fünfzehn Minuten.« Roxanne
rutschte ein Stück zu Seite, so daß Alice sich zu ihr auf die Bank
setzten konnte. »Die Zahl der Opfer wird immer größer.«
»Ja, diese Straßen sind tückisch.« Alice lächelte ihr
hübsches, versonnenes Lächeln. »Ich habe versucht, ihm die Vorteile von
Fahrgemeinschaften beizubringen, aber ihm ist ein Verkehrsstau lieber.«
»Besser gesagt, Verkehrsunfälle. Ich hoffe nur, das bleibt
nicht so.«
»Ich glaube, da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.«
Alice atmete genießerisch den Duft der Rosen ein. Sie liebte diesen Hof
mit seinen schattigen Plätzen, wo man wunderbar nachdenken konnte. Da
sie aus dem Norden stammte, fand sie die Atmosphäre hier im Süden
einfach hinreißend. »Nach dem Kindergarten gehe ich mit Nate zum
Jackson Square und lasse ihn dort eine Weile herumrennen.«
»Ich wünschte, ich könnte mitkommen. Ich habe immer das
Gefühl, daß ich nicht genügend Zeit mit ihm verbringe, wenn ich mich
auf ein Unternehmen vorbereite.«
Alice wußte über die beiden unterschiedlichen Sparten, in
denen die Nouvelles tätig waren, Bescheid und hatte es mit
philosophischer Gelassenheit akzeptiert. Sie war der Auffassung, daß
durch die Diebstähle der übermäßige Reichtum einzelner ein wenig besser
verteilt wurde. »Du bist eine wundervolle Mutter, Roxanne. Ich habe
noch nie erlebt, daß du über deiner Arbeit Nate vergessen hättest.«
»Hoffentlich. Er ist für mich das Wichtigste auf der Welt.«
Sie lachte, als er mit lautstarkem Getöse zwei Autos zusammenkrachen
ließ. »Meinst du, er hat einen Hang zur Brutalität?«
»Eher eine gesunde Aggressivität.«
»Ein Glück, daß wir dich haben, Alice.« Mit einemSeufzer
lehnte Roxanne sich zurück. Aber sie rieb nervös ihre Hände. »Alles
schien so ruhig und gut geregelt. Ich hab's gern, wenn das Leben nach
einer bestimmten Routine abläuft, weißt du? Vermutlich liegt das an der
Disziplin, die man zum Zaubern benötigt und die ich von Kind an gelernt
habe.«
»Ich würde nicht sagen, daß du eine Frau bist, die keine
Überraschungen mag«, meinte Alice ruhig.
»Es gibt solche und solche. Ich will nicht, daß Nates Leben
durcheinandergerät. Und meines auch nicht. Ich weiß, was das beste für
ihn ist. Und ich weiß vor allem, was das beste für mich ist.«
Alice schwieg einen Moment. Sie war kein Mensch, der
leichtfertig und ohne nachzudenken daherredete, sondern sie überlegte
sich stets sorgfältig, was sie sagte. »Möchtest du, daß ich dir
versichere, es sei richtig, Nates Existenz vor seinem Vater zu
verheimlichen.«
»Es ist richtig.« Roxanne blickte zu ihrem Sohn und senkte
vorsichtshalber die Stimme. »Wenigstens vorläufig. Er hat keine Rechte
an ihm, Alice. Die hat er damals verloren, als er uns im Stich ließ.«
»Er wußte nicht, daß es Nate gab.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Mag sein. Das kann ich nicht beurteilen.«
Roxanne preßte die Lippen zusammen und fühlte sich verraten.
»Du stellst dich also auch gegen mich, wie die anderen?«
»Das siehst du falsch,
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