Die Tochter des Magiers
Zerstörung eines Traums durch jemanden aus der
Vergangenheit. Leid – aber das wird die Zeit heilen.«
»Und die Todeskarte?« Roxanne spürte zu ihrer Überraschung
eine kleine Gänsehaut, als sie auf das grinsende Skelett blickte.
»Vom ersten Atemzug an jagt der Tod das Leben.« Madame strich
bedächtig über die Karte. »Du bist noch zu jung, um zu spüren, wie er
einem ins Ohr flüstert. Aber dieser Tod hier ist kein Tod. Begib dich
auf deine Reise, pi chouette , und
lerne.«
Luke konnte es kaum erwarten, endlich
aufzubrechen. Nichts war ihm im Moment lieber, als aus der Stadt zu
verschwinden. Auf seinem Couchtisch lag, adressiert und frankiert, die
letzte Zahlung an Cobb.
Die Geldforderungen waren im Laufe der Jahre mit
unerbittlicher Regelmäßigkeit gekommen. Manchmal zweitausend, manchmal
viertausend, im Durchschnitt fünfzigtausend jährlich.
Luke hätte diese Zahlungen leicht verschmerzt, denn Geld hatte
er mehr als genug. Aber jedesmal, wenn er eine solche Postkarte in
seinem Briefkasten fand, stieg wieder diese schauerliche Übelkeit in
ihm auf.
2 T, stand etwa darauf, oder 5 T, dazu die Nummer eines
Postfachs. Sonst nichts.
Im Verlauf der vier Jahre hatte Luke gemerkt, daß Cobb viel
gerissener war, als er ihm zugetraut hätte. Ein Narr hätte versucht, im
großen Stil abzukassieren. Aber Cobb, der gute alte Al, hielt offenbar
ein kleines, aber regelmäßiges Einkommen für weit besser.
Luke sehnte sich danach, das alles einmal zu
vergessen – die Postkarten, das beständige Unbehagen und die
Sorgen um Max, der immer besessener wurde mit seinem legendären Stein
der Weisen.
Auf dem Schiff würden sie zu beschäftigt sein, um sich
irgendwelche Gedanken zu machen. Sie würden immer wieder in neuen Häfen
anlegen, mußten Vorstellungen geben und sich mit dem kleinen Fischzug
beschäftigen, den sie in Manhattan vorhatten.
Und in seiner spärlichen Freizeit wollte sich Luke an den Pool
legen, Kopfhörer aufsetzen, die Nase in einem Buch vergraben und sich
von einer attraktiven, hüftschwenkenden Stewardeß mit kühlem Bier
versorgen lassen.
Alles in allem war er mit seinem Leben sehr zufrieden. Er
hatte etwas mehr als zwei Millionen auf seinem Schweizer Bankkonto und
noch einmal so viel in verschiedenen Wertpapieren in den Staaten
angelegt und daneben ein wenig in Immobilien investiert. In seinem
Schrank hingen Anzüge aus der Seville Row und von Armani, obwohl er am
liebsten nach wie vor Jeans von Levi's trug. Auch wenn er sich in Nikes
wohler fühlte, standen in seinem Regal polierte Gucci-Schuhe und
etliche John-Lobb-Boots. Er fuhr ein flottes Sportcoupé und flog mit
seiner eigenen Cessna, gönnte sich importierte Zigarren, französischen
Champagner und hatte eine Schwäche für italienische Frauen.
Für einen halbverhungerten jugendlichen Taschendieb hatte er
wahrhaftig viel erreicht.
Der Preis, den er dafür zahlte, um dieses Leben weiterführen
zu können, waren die kleinen Summen an seinen Erpresser und die
Unterdrückung eines stetig bohrenden Verlangens. Roxanne.
Aber Max hatte ihn gelehrt, nie auf die Kosten zu achten,
falls nicht der eigene Stolz auf dem Spiel stand.
Luke ging mit seinem Becher Kaffee hinaus auf den Balkon.
Mädchen in hübschen Sommerkleidern schlenderten über den Jackson
Square, Babys wurden in Sportwagen spazierengefahren, Touristen waren
mit Kameras um den Hals unterwegs. Drei schwarze Kinder führten einen
rasanten Steptanz auf, und das fröhliche Klick-Klack ihrer Schuhe drang
bis zu ihm hinauf. Es freute ihn, daß sie so viele Zuschauer angelockt
hatten.
Die Frau, die er an seinem ersten Tag in New Orleans gehört
hatte, sang nicht mehr im Viertel. Er vermißte ihre Lieder und hatte
nie wieder erlebt, daß ihn ein Gesang derart ergriffen hatte. Aber es
machte ihm immer Freude, wenn sich die Pappschachteln der
Straßenkünstler mit Münzen füllten. Ohne Max, dachte er, ohne Max und
Lily hätte mir vermutlich viel Schlimmeres geblüht, als für ein paar
Pennies zu tanzen.
Ein wehmütiges Gefühl überkam ihn bei diesem Gedanken. Er
wußte, warum Max sich immer mehr aus der Nummer zurückzog und sie
zunehmend ihm und Roxanne allein überließ. Er glaubte sogar zu
verstehen, warum Max so viel Zeit dem verdammten Stein der Weisen
widmete. Und das tat weh. Max wurde alt.
Als es klopfte, wandte er sich unwillig um und ging, um die
Tür zu öffnen. Doch dann strahlte er.
»Lily.« Er küßte ihre Wange und genoß den wunderbar vertrauten
Duft nach Chanel,
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