Die Tochter des Magiers
erschien sie
Madame wie das Musterexemplar einer Collegestudentin, die gerade ihren
Abschluß in der Tasche hatte und es kaum erwarten konnte, daß ihr Leben
endlich begann.
Madame zählte einem Kunden sorgfältig das Wechselgeld hin.
Nach dreißig Jahren im Geschäft lehnte sie solch modernen Firlefanz wie
Registrierkassen immer noch entschieden ab. Die alte, handbemalte
Zigarrenkiste unter der Theke leistete ihr ebenso gute Dienste.
»Viel Spaß damit«, wünschte sie und schüttelte den Kopf, als
der Kunde mit einem ausgestopften Papagei unter dem Arm den Laden
verließ. Diese Touristen kauften einfach alles. »Also, pi
chouette , bist du gekommen, um mir dein
College-Diplom zu zeigen?«
»Nein. Ich glaube, Max läßt es gerade vergolden.« Sie lächelte
flüchtig und spielte mit einer Porzellantasse, die schon ein wenig
angeschlagen war. »Man könnte glauben, ich hätte das Heilmittel gegen
Krebs entdeckt.«
»Den Abschluß als Fünftbeste deines Jahrgangs zu machen, ist
doch auch wirklich beachtlich.«
Roxanne zuckte nur die Schultern. Sie war schrecklich unruhig.
»Dazu brauchte es nur Fleiß und ein gutes Gedächtnis.«
»Was also macht dir Sorgen?«
Roxanne stellte die Tasse ab und holte tief Atem. »Mein
Vater.« Es war eine Erleichterung, es einmal laut auszusprechen. »Seine
Hände sind nicht mehr so, wie sie einmal waren.« Mit niemandem konnte
sie über dieses Problem reden, nicht einmal mit Lily. Obwohl alle
wußten, daß seine Arthritis immer schlimmer wurde. Seine Knöchel
schwollen an, die Finger versteiften, und weder Ärzte noch Arzneien
oder Massagen halfen. Doch eigentlich machten die Schmerzen ihm viel
weniger zu schaffen als seine Angst, daß er das verlor, was ihm am
meisten bedeutete – die Fähigkeit, zu zaubern.
»Selbst Max kann die Zeit nicht anhalten, petite .«
»Ich weiß, ich weiß. Nur kann ich es einfach nicht
akzeptieren. Und es sind nicht bloß die körperlichen Veränderungen,
Madame. Er brütet viel zu viel allein in seinem Arbeitszimmer vor sich
hin und beschäftigt sich andauernd mit diesem verfluchten Stein der
Weisen. Seit Luke letztes Jahr ausgezogen ist, ist es noch schlimmer
geworden.«
»Aber Roxanne«, entgegnete Madame, verwundert über die
Bitterkeit in ihrer Stimme anläßlich der letzten Worte, »Luke ist ein
erwachsener Mann und braucht seine eigene Wohnung.«
»Er brauchte nur ein ungestörtes Plätzchen für seine
Frauengeschichten.«
Madame verkniff sich ein Lächeln. »Das ist Grund genug. Und er
wohnt doch ganz in der Nähe. Arbeitet er nicht weiterhin mit Max
zusammen?«
»Doch, doch.« Roxanne winkte ungeduldig ab. »Ich wollte nicht
vom Thema abschweifen. Es ist mein Vater, der mir Sorgen macht. Er ist
derart besessen von diesem verdammten Stein, daß ich kaum noch an ihn
herankomme.«
»Was ist das für ein Stein?«
Roxanne hob das Tarotspiel auf, das wie immer auf der Theke
lag, und begann es zu mischen. »Der Stein der Weisen ist bloß ein
Mythos, Madame, eine Illusion. Der Legende nach kann dieser Stein alles
in Gold verwandeln. Und …« Sie warf ihr einen bedeutungsvollen
Blick zu, »… den Alternden die Jugend und den Kranken die
Gesundheit zurückgeben.«
»Und du glaubst nicht an solche Dinge? Gerade du, die du dein
Leben lang mit Magie zu tun hattest?«
»Eben weil ich weiß, was dahintersteckt.« Roxanne begann ein
keltisches Kreuz zu legen. »Nämlich Übung und Fingerfertigkeit, jede
Menge Schweiß und die richtige Portion Dramatik. Ich glaube an die
Kunst der Magie, Madame, nicht an magische Steine oder an das
Übernatürliche.«
»Ich verstehe.« Madame blickte auf die Tarotkarten. »Dennoch
suchst du dort deine Antworten?«
»Hm«, Roxanne hatte gerade begonnen, die Karten zu
interpretieren, und errötete. »Nur zum Zeitvertreib.« Hastig wollte sie
die Karten zusammenraffen, doch Madame hielt ihre Hand fest.
»Es wäre eine Schande, nicht wenigstens nachzuschauen, was sie
dir sagen wollen.« Sie beugte sich über das ausgelegte Kreuz. »Das
Mädchen steht an der Schwelle zur Frau. Es wird bald eine Reise
unternehmen. Im übertragenen Sinne wie auch in der Realität.«
Roxanne lächelte unwillkürlich. »Wir machen eine Kreuzfahrt.
Nach Norden, den St.-Lorenz-Strom hinauf. Wobei wir natürlich auftreten
werden. Max betrachtet es als eine Art Arbeitsurlaub.«
»Bereite dich auf Veränderungen vor.« Madame deutete auf das
Rad des Schicksals. »Die Verwirklichung eines Traums … wenn du
weise bist. Und die
Weitere Kostenlose Bücher