Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
angenommen. Hinter ihnen erhoben sich der steile Bergrücken, Bambusgewirr und mit Raureif überzogene, skelettartige Bäume in unheimlicher Stille. Nach dem Appell nahmen die Männer Gewehre oder schwere Tornister auf und machten sich in raschem Tempo auf den Weg um den Shiroyama, den Burgberg. Einige rannten hinunter zum Ozean für ein erfrischendes, kurzes Winterbad. Eijiro meldete sich zum Küchendienst. Die anderen mochten ihn für einen Drückeberger halten, aber er war der Sohn von Kitaoka, redete er sich ein. Er konnte machen, was er wollte.
Nach dem Frühstück begann der Unterricht in konfuzianischen Klassikern und Fremdsprachen, Englisch, Französisch oder Deutsch. In den Pausen waren die meisten Männer draußen auf dem Übungsgelände zum Kampftraining, und am Nachmittag ging es auf den Schießplatz. Die Infanterie verfügte über Snider-Enfield-Gewehre, Karabiner und Pistolen, und es gab zwei Artillerie-Einheiten, ausgerüstet mit Feldhaubitzen und Mörsern. Gegen Ende des Tages kamen Jungen aus Kagoshima, um sich den Schülern für weiteren Unterricht und militärischen Drill anzuschließen, und am Abend würde es eine Debatte geben. Krieg hing über der Stadt wie eine dunkle Wolke, und alle wollten sicher sein, dass sie, wenn der Krieg kam, bereit und einsatzfähig waren.
Am späten Nachmittag hüllten sich Eijiro und Nakahara in gefütterte Haori-Jacken und schlichen sich in den Wald hinter der Schule. Sie fanden einen Platz im Schatten des Berges, geschützt vor dem schneidenden Wind. Wenigstens hielt die Kälte Schlangen fern. Nebeneinander ließen sie sich an einen alten Baumstumpf gelehnt nieder, holten ein Fläschchen Shochu heraus, den feurigen, einheimischen Branntwein, und zündeten ihre Pfeifen an. Scharfe Schreie und das Knallen von Holz auf Holz hallten vom Übungsgelände auf der anderen Seite der Stallungen herüber.
Eijiro sog den Rauch tief in die Lunge, genoss den Duft, blies den Rauch dann stoßweise wieder aus und sah zu, wie er sich in der Bergluft auflöste. Diese Tageszeit war ihm die liebste, wenn er Erde, Moos und modernde Blätter roch, Zweige unter seinen Füßen knacken spürte und aufgeschreckte Vögel kreischen und durch die Bäume davonflattern hörte.
Nakahara starrte in die Ferne und drehte seine Pfeife in den Fingern. Er setzte das Fläschchen an die Lippen, nahm einen Schluck und schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Sieht nicht gut aus«, murmelte er. Eijiro nahm einen weiteren Zug aus seiner Pfeife und sah Nakahara fragend von der Seite an. Für gewöhnlich tauschten sie derbe Geschichten über Geishas und Kurtisanen aus, die sie gekannt hatten, bevor sie auf ernstere Dinge kamen – darauf, was sie wirklich von den Vorgängen hier hielten. Aber heute wollte Nakahara offenbar sofort zur Sache kommen. »In Tokyo hat es Manöver gegeben, auf dem Exerzierplatz von Hibiya – als große Demonstration der Stärke. Um die Bevölkerung zu beruhigen, hieß es.«
Dem war leicht zu begegnen. »Nichts, worüber man sich Sorgen machen muss. Das sind doch nur Gemeine, eine Armee von Gemeinen!« Eijiro spuckte das Wort regelrecht aus. »Mein Großvater pflegte sein Schwert an deren Hälsen zu prüfen. Für mehr sind die nicht gut. Glaubst du, Gemeine wissen, wie man ein Schwert schwingt oder mit einem Gewehr geradeaus schießt? Sie wollen nicht mal in der Armee sein. Blutsteuer nennen sie es. Es gibt ein neumodisches Wort dafür – Wehrpflicht. Sie sind Wehrpflichtige. Hat man so was schon mal gehört? Verbieten den Samurai, Schwerter zu tragen, und geben Waffen an Gemeine aus! Die ganze Welt steht kopf. Wenn diese Gemeinen befürchten müssen, verletzt zu werden, laufen sie davon. Sie hier gegen unsere Jungs einzusetzen, würde ein Massaker bedeuten.«
Nakahara klopfte seine Pfeife aus und nahm einen Klumpen Tabak aus seinem Tabakkasten. »Ja, aber schau dir die Zahlen an. Sie haben sechs Garnisonen, weißt du: Tokyo, Sendai, Nagoya, Osaka, Hiroshima, Kumamoto.« Er zählte sie an den Fingern ab. »Sechs Garnisonen mit, sagen wir, jeweils dreißigtausend. Das macht fast zweihunderttausend Mann. Ein Menge mehr als wir. Und Kumamoto liegt – was? – höchstens zwei Tagesmärsche von hier entfernt. Sie könnten in kürzester Zeit Truppen hier haben, um mit uns reinen Tisch zu machen.«
»Feiglinge und Schwächlinge, die ganze Bande. Sieh es mal so. Unsere Jungs sind als Samurai geboren und aufgewachsen, die härtesten Männer im ganzen Land. Die meisten haben schon im
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