Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
mit mir, und eines Tages werde ich auch nach dir schicken. Einstweilen bist du der Mann im Haus. Gib gut acht auf deine Mutter und deine kleinen Schwestern.«
Mit seiner pummeligen Hand fuhr Eijiro über die kratzige Wange seines Vaters. »Wirst du bald zurückkommen?«, fragte er.
»So bald ich kann.« Aber tatsächlich hatte er nie nach ihm geschickt, und Jahre sollten vergehen, bevor Eijiro ihn wiedersah. Später hörte er, sein Vater sei im Exil gewesen, dann im Gefängnis, und dann, dass er ein berühmter General sei, der Anführer einer Armee. In der letzten großen Schlacht des Bürgerkriegs waren die Satsuma und ihre Verbündeten siegreich gewesen, aber dann war die Nachricht gekommen, Ryutaro sei gefallen. Für die Familie war es ein bittersüßer Sieg. Inzwischen hatte Eijiro bereits erfahren, dass sein Vater eine andere Familie und andere Söhne hatte – Söhne, die er anerkannte, keine Söhne wie Ryutaro und Eijiro, die er geheim hielt.
Eine seltsame Kindheit, aufzuwachsen im Geisha-Distrikt, umgeben von Frauen, und der Vater weit fort. Vielleicht war das der Grund, warum Eijiro schließlich so viel seiner Zeit im Vergnügungsviertel verbracht hatte. Genau das, wovor die Leute einen warnten: Zeit mit Frauen zu vergeuden, nahm einem die Kraft und machte einen schwach wie eine Frau. Am Ende hatte er vollkommen vergessen, was sein Vater ihm gesagt hatte.
Aber jetzt fiel es ihm wieder ein. Er war ein Samurai, aus der Kriegerkaste. Trotz des trägen, lasterhaften Lebens, dem er sich hingegeben hatte, trug er den Namen Kitaoka, und das Blut der Kitaoka floss in seinen Adern. Da Ryutaro tot war, lag die Verantwortung, die Ehre des Namens Kitaoka aufrechtzuerhalten, bei ihm. Und hier war er, ein Kitaoka, hielt sich zurück, ließ zu, dass sich andere vor ihm ins Schlachtgetümmel stürzten. Er hatte das Gefühl, plötzlich aufgewacht zu sein. Sein ganzes bisheriges Leben war nichts als ein Traum gewesen.
Er ließ Itos Arm los. »Auf geht’s!«
Als sie über den Kai rannten, auf die brüllende Horde vor dem Arsenal zu, stieß er einen Kampfschrei aus, der ihm mehr wie ein Freudenschrei vorkam.
Die zur Bewachung des Arsenals eingesetzten Marineoffiziere hatten sich an die Türen zurückgezogen. Sie waren nur eine kleine Truppe, zehn oder fünfzehn kräftige Burschen mit kurz geschnittenem Haar und mürrischen Gesichtern, die der Menge der Angreifer entgegenstarrten und an ihren Waffen herumfummelten. Einer versuchte sein Gewehr zu spannen, aber fünf oder sechs Rebellen sprangen vor und entrissen es ihm.
Eine Stimme erhob sich über das Gebrüll, Gezänk und Füßescharren. »Tretet zurück! Wir beschlagnahmen dieses Arsenal im Namen von Masaharu Kitaoka!«
Ein Schauder rann Eijiro über den Rücken, und seine Nackenhaare sträubten sich. Sein Vater war weit fort. Er hatte keine Ahnung von diesem Abenteuer und hatte es nicht genehmigt. Aber es war zu spät, jetzt noch umzukehren, viel zu spät.
»Verstärkung ist unterwegs«, brüllte ein Wächter. »Ihr werdet dafür büßen.«
Es blitzte auf, und ein Knall ertönte. Einer der Wächter hatte einen Schuss abgefeuert, der harmlos verpuffte.
Schlagartig trat Stille ein. Die Pattsituation war durchbrochen worden. Ito schaute zu Eijiro, und ein Gesicht nach dem anderen wandte sich ihm zu. Sie warteten darauf, dass er den nächsten Schritt tat.
Er atmete tief ein, reckte den Arm in die Luft, das Gewehr in der Hand. »Das Arsenal!«, brüllte er.
Ein kurzes Verharren, dann stürzten sich die jungen Männer auf die Wachleute und prügelten sie mit fliegenden Fäusten aus dem Weg.
Eijiro musterte die schweren Holztüren. Sie waren mit dicken Holzbolzen und riesigen, rostigen Vorhängeschlössern gesichert. Die anderen traten zurück, und er nahm das Gewehr am Lauf und schlug mit dem Kolben fest auf eines der Schlösser ein. Seine Hände rissen auf und bluteten, aber das Schloss wollte nicht nachgeben. Er atmete tief durch, hob das Gewehr und schlug noch einmal zu.
»Warte«, sagte Ito, packte einen Hammer und ließ ihn mithilfe von drei oder vier anderen auf das Vorhängeschloss knallen, bis es nachgab. Eijiro schlug auf das zweite Schloss ein, bis auch das brach.
Als die Männer die Bolzen zurückschoben und die Tür aufdrückten, schlug ihnen ein Geruch von Staub und Öl entgegen. Sie drängten in die klamme Dunkelheit. Das Gebäude war viel größer, als es von außen wirkte. Jemand zündete eine Laterne an einer langen Stange an und hielt sie hoch.
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