Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
verließen. Nicht weit entfernt hörte Taka das gedämpfte Rauschen der Wellen und spürte die Frische der Seeluft an ihrer Haut. Wolken hatten sich gebildet. Sie empfand ein wunderbares Gefühl von Raum und Offenheit.
»Haben Sie einen Wunsch mitgebracht?«, fragte sie und lächelte den jungen Mann an. Das Mondlicht hob seine Gesichtszüge hervor, formte geisterhafte Höhlungen unter seinen Brauen und Wangenknochen.
»Ich habe einen im Herzen.«
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Bambushain.«
Okatsu zog zischend den Atem ein. »Die Dunkelheit hat schon eingesetzt«, sagte sie. »Ihre Mutter würde wollen, dass ich mit Ihnen komme …« Taka straffte die Schultern und brachte Okatsu damit zum Schweigen. Die Dienerin wusste sehr gut, wie dickköpfig Taka sein konnte. »Wir werden beide bestraft, wenn sie es herausfindet, ich schlimmer als Sie«, fügte sie seufzend hinzu.
»Sie wird es nicht herausfinden«, widersprach Taka bestimmt. »Wir bleiben nicht lange.«
Ein paar Nachzügler befanden sich noch auf dem Tempelgelände. Taka und Nobu gingen durch das äußere Tor und das zweistöckige innere, unter den Bäumen hindurch am großen Tempel vorbei zur Begräbnisstätte. Taka ging voraus. Sie hörte das Klappern von Nobus Holzschuhen auf den Steinplatten und seinen Atem in der Stille. Die letzten Zikaden waren verstummt. Fledermäuse schossen herum, und eine Eule flatterte erschreckend nahe von den Bäumen. Taka hatte so viel zu sagen, wollte aber den Zauber nicht brechen.
Der Mond war höher gestiegen, und Schatten legten sich über den Pfad. Sie gingen zwischen den Grabsteinen hindurch, atmeten den Duft von Räucherwerk und frisch geschnittenen Kiefernzweigen ein, die vor die Grabsteine gelegt worden waren. In den flachen Steinbecken glitzerte Wasser.
Plötzlich wurde es still. Nobu war stehen geblieben und betrachtete einen moosbedeckten Grabstein, der ihn überragte und einen Schatten über ihn warf. Mit den Fingern fuhr er über die verwitterten, in den Stein gemeißelten Schriftzeichen.
»Asa…no«, las er langsam. »Asano Naganori, Fürst von Takumi, aus der Domäne Ako.« Taka sah verblüfft, wie sehr sich sein Gesicht verändert hatte. Er runzelte die Stirn, als käme ihm eine schmerzvolle Erinnerung. »Wir sollten Respekt zeigen, gnädige Frau«, sagte er scharf. »Sie müssen es vergessen haben. Das hier ist der Sengaku-Tempel, der Tempel der Quelle auf dem Hügel. Und das sind die Grabmäler der Siebenundvierzig.«
Taka war so oft an den Grabsteinen der berühmten Krieger vorbeigegangen, hatte frische Kiefernzweige vor ihnen abgelegt und die Hände respektvoll zusammengelegt, ohne groß darüber nachzudenken. Es bewegte sie, dass Nobu diese schwierigen Schriftzeichen kannte, und sie musste daran denken, wie sehr es ihr gefallen hatte, wenn er die alten Chroniken für sie zitierte.
»Würden Sie mir deren Geschichte erzählen, Nobu?«
Mit ernster Stimme begann er zu sprechen. »Asano, Fürst von Takumi, sah sich, angestachelt durch die unerträglichen Beleidigungen des Kammerherrn Kira, Zeremonienmeister des Hofes, am vierzehnten Tag des dritten Monats im vierzehnten Jahr Genroku gezwungen, sein kurzes Schwert zu ziehen und es innerhalb der Burg Edo gegen ihn zu erheben.« Nobus Stimme hatte einen nördlichen Tonfall angenommen. Er sprach leise, in rhythmischen Kadenzen, formte jede Silbe, den Blick auf etwas in weiter Ferne oder die lang vergessene Vergangenheit gerichtet.
»Für dieses Vergehen wurde er verurteilt, durch eigene Hand zu sterben. Seine Ländereien wurden konfisziert und seine Gefolgsleute, nun herrenlos, wurden zu Ronin.« Ronin – »Wellenmänner«, Samurai ohne einen Herren, Wind und Wellen schutzlos ausgeliefert. Er sprach das Wort mit grimmiger Betonung aus.
»Siebenundvierzig Männer leisteten einen feierlichen Schwur, alles zu tun, was sie konnten, sogar ihr eigenes Leben zu verwirken, um ihren Herrn an Zeremonienmeister Kira zu rächen, der ihren Herrn beleidigt, für seine Ungnade, seinen Tod und die Zerstörung seiner Domäne gesorgt hatte.«
Langsam ging Nobu von Stein zu Stein und las die Namen laut vor. Am Ende der Grabsteinreihe stand ein besonders hoher, beeindruckender, etwas abgesondert von den anderen, mit einem Opferkasten davor und duftendem Rauch, der aus einem Bündel Räucherstäbchen aufstieg. Er war frisch geschrubbt, und in einer Steinvase standen Blumen. Nobu las die Inschrift: »Oishi Kuranosuke, Anführer von Fürst Asanos Gefolgsleuten.«
Die
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