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Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Titel: Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Downer
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den Schnee gestapft war, barfuß und in Lumpen gehüllt, und wie er auf einem Stein gelutscht hatte, um sein Hungergefühl zu besänftigen. Er hatte nichts wahrgenommen, hatte nur darauf geachtet, sich dicht an seinen Vater zu halten.
    Yasu blickte auf. Nobu hatte ihn seit jenen fernen Tagen in Aizu nicht mehr lächeln gesehen. Das machte ihn jünger, anziehender. »›Wir kamen über den Pass und überquerten den Abukuma-Fluss. Zu unserer Linken erhoben sich die Aizu-Gipfel, und zu unserer Rechten erstreckten sich die Domänen Iwaki, Soma und Miharu‹«, deklamierte er. Nobu bemerkte die archaische Sprache und Kadenz. Yasu zitierte Basho, den alten Dichter.
    Je weiter sie sich von Tokyo entfernten, desto leichter war Yasus Schritt geworden. Er humpelte zwar noch immer, das würde sich nie geben, aber er hatte nicht mehr diesen abgehärmten, hungrigen, verzweifelten Ausdruck im Gesicht. Yasu trug eine Jacke und zusammengeflickte Beinkleider wie ein Bauer, hatte jedoch die jammervoll gebückte Haltung abgelegt und hielt sich wie der stolze Samurai, der er gewesen wäre, wenn das Schicksal und die Götter sich nicht eingemischt hätten. Yasu hätte ein wichtiger Mann in unserer Domäne sein sollen, dachte Nobu, ein Gelehrter, ein Dichter oder ein Schwertkämpfer. Doch die Götter, oder wer immer über das Schicksal der Menschen gebot, hatten für ihn einen ganz anderen Plan gehabt.
    »Matsuo Basho kam hier durch«, sagte Yasu mit funkelnden Augen. »Wenn du in Aizu aufgewachsen wärst und eine richtige Bildung erhalten hättest, wie es hätte sein sollen, trügest du seine Worte im Herzen. Ungefähr vor zweihundert Jahren war er auf dem Weg nach Norden, wie wir, mit einem Stab, einem Bündel und einem Riedgrashut auf dem Rücken, und während er ging, schrieb er Haiku, über die Landschaft oder historische Ereignisse, die hier stattfanden, oder eine Blume, eine Pflanze oder ein Insekt, je nachdem, woran er gerade Gefallen fand. Er schrieb sogar über seine dünnen Waden. Basho führte ein Tagebuch über seine Reisen und nannte es Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland . Die Menschen kamen von nah und fern, um zu seinen Füßen zu sitzen und Haiku zu dichten.« Yasu seufzte schwer. »Ich habe selbst Haiku verfasst. Ich saß nachmittags mit Freunden zusammen, wir tranken und redeten und verfassten Kettengedichte. Jetzt bin ich bloß noch Soldat. Nein, nicht einmal das.«
    Er blickte zu Boden, als erwartete er, dort Bashos Worte geschrieben zu sehen, dann hob er wieder den Kopf. Die Sonne warf feurige Strahlen auf die schneebedeckten Gipfel, ließ sie wie Rüstungen schimmern. »Der graue Fleck da am Ende des Tals«, sagte er, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. »Das könnte Aizu sein, oder vielleicht bilde ich mir das nur ein. Ich habe gelesen, dass sich Menschen, verzweifelt vor Durst, in der Wüste einbilden, Teiche und Bäume zu sehen. Vielleicht passiert das in den Bergen auch.«
    Den Blick angestrengt in die Ferne gerichtet, meinte Nobu, weit hinten im Tal Rauch aufsteigen zu sehen. Er biss sich auf die Lippe und überlegte, zu welcher Art Zuhause er wohl zurückkehren würde. Mit geschlossenen Augen versuchte er, ein Bild des aufragenden Bergfrieds und der geschwungenen Dächer der Weißen Kranichburg heraufzubeschwören, die über dem Gewirr schmaler Straßen thronte, den gedrungenen Lagerhäusern des Kaufmannsbezirks und den Samurai-Residenzen mit ihren sandfarbenen Mauern.
    In Gedanken war er wieder im Haus seiner Familie mit den vielen Zimmern, in seiner Kinder-Hakama, die beiden Schwerter in seiner Schärpe, sah, wie er durch das Tor mit dem geschwungenen Ziegeldach und über den Hof flitzte, ein Diener mit seinen Büchern hinter ihm her. Vorbei am Vordereingang, an dem Mitglieder des Kriegeradels in Palankins eintrafen, um seinen Vater und seinen Großvater zu besuchen, nach hinten zum Familienflügel, wo er im Eingang mit dem Ruf: »Ich bin wieder da« aus den Holzpantinen geschlüpft war. Seine Mutter, Großmutter und Schwestern hatten ihn auf Händen und Knien mit tiefer Verbeugung begrüßt. Er hatte sich ans Feuer gesetzt, sehr ernst, und ihnen alles erzählt, was er an dem Tag in der Schule erlebt hatte.
    Nobu wusste noch, wie er auf Bäume geklettert war, im Winter Schneebälle geworfen und mit seinen Freunden auf der Straße zwischen übermannshohen Schneewänden gespielt hatte, während die Flocken dicht und weich auf den Gärten und den Tempeln lagen und in dicken weißen Schichten auf den

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