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Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Titel: Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Downer
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Dächern glitzerten. Dann hatte die Stimmung zu brodeln begonnen, als sich die Stadt auf feindliche Angriffe vorbereitete – Menschen waren herumgerannt, hatten Barrikaden errichtet, Wasserfässer geschleppt und nasse Strohmatten aufgestapelt, mit denen verhindert werden sollte, dass durch einschlagende Kanonenkugeln Brände ausbrachen. Männer waren durch die Straßen patrouilliert, Menschen hatten ernsthaft mit Schwertern und Musketen geübt, und zu Hause hatten seine Mutter und seine Schwestern eifrig Uniformen genäht.
    Aber das war lange her. Davon war nichts mehr übrig, überhaupt nichts mehr.
    Die Erinnerung raubte ihm den Atem wie ein Schlag in die Magengrube, und er sackte zusammen, gab blind vor, seine Sandale zu richten, um die Tränen zu verbergen, die ihm in die Augen schossen. Er war wieder zehn Jahre alt, stand erstarrt auf dem Hügel, hörte ein Brüllen, das aus dem Bauch eines feuerspeienden Drachens zu kommen schien, sah den Himmel brandrot leuchten und schwarzen Rauch über die Stadt wallen. Er hatte Flammenzungen gesehen, wollte zu seiner Mutter rennen, aber sein Diener hatte ihn am Ärmel gepackt und gebrüllt: »Nein, junger Herr, nein! Sie dürfen nicht nach da unten!«
    Bis zu diesem Augenblick war er ein Kind gewesen und hatte kaum darüber nachgedacht, warum er am Tag zuvor von seiner Mutter aus der Stadt geschickt worden war. »Nun los, lauf schon«, hatte sie gesagt. »Bleib ein paar Tage bei deiner Tante und hilf ihr beim Pilzesammeln.« Die Stadt war in Aufruhr, keiner seiner Freunde kam mehr zum Spielen, und sein Vater und seine Brüder waren schon vor Langem in den Krieg gezogen. Nur allzu gern hatte er zugestimmt.
    Erst da, als er das rote Glühen des Himmels sah, die sengende Hitze spürte, das Dröhnen der Kanonen und das unaufhörliche Rattern der Gewehre hörte, war es ihm plötzlich klar geworden. Sie hatte ihn fortgeschickt, um ihn zu retten, damit wenigstens einer aus der Familie überlebte. Aber am Ende hatten sein Vater und all seine Brüder die Kämpfe überlebt. Stattdessen waren die Frauen umgekommen. Mehr als einen Monat hatte es gedauert, bis der ständige Artilleriebeschuss aufhörte, und sogar noch länger, bis die Besatzungstruppen den Menschen Zugang zu den zerstörten Straßen gewährten, um zu schauen, wo ihre Häuser gestanden hatten, und in der Asche nach Knochen zu suchen.
    Früh am nächsten Morgen brachen die Brüder in Richtung des grauen Flecks am Ende des Tals auf, bogen bald von der Fernstraße ab und schlugen den Weg nach Aizu ein. Allmählich verwandelten sich die Steinhaufen am Fuß der Berge in die Umrisse von Gebäuden, aber wie sehr sich Nobu auch anstrengte, er konnte die Weiße Kranichburg nicht entdecken. Als er klein war, hatte er sie stets über der Stadt aufragen sehen. Doch da war nichts mehr.
    Er trat gegen die Steine, die den Weg übersäten. »Das ist nicht Aizu. Kann es nicht sein. Du hast dich geirrt, wir sind falsch abgebogen.«
    Zumindest hoffte er das insgeheim. Je näher sie kamen, desto mehr graute ihm vor der Entdeckung, was mit seinem alten Zuhause passiert war.
    »Sei doch kein Narr«, schimpfte Yasutaro. »Wie könnte ich es vergessen? Das ist der Weg nach Aizu. Der Weg nach Hause.«
    Nobu stolperte weiter, mit düsteren Gedanken über sein Zuhause, seine Familie, über Jubei und seine, Nobus, alberne Vernarrtheit in Taka, die zu Jubeis schrecklichem Tod geführt hatte, als er plötzlich etwas im Gebüsch schimmern sah, weiß und glatt wie ein Stein. Ein Tierknochen, dachte er. Dann sah er noch einen und noch einen. Verblüfft schaute er sich um. Überall lagen Knochen, ragten aus der Erde, hatten sich in Grasbüscheln verfangen, lagen verborgen im Goldbaldrian, waren von Unkraut überwuchert, in kleinen Haufen über die Ebene verstreut. Sie gingen über ein Schlachtfeld.
    Plötzlich warf Yasu sein Bündel ab, stürzte sich ins Buschgewirr, trat Zweige aus dem Weg und trampelte sie nieder. Er scharrte im Unterholz und zerrte etwas Rundes heraus, riss die Stängel und Blätter weg und wischte die Erde ab. Ein Schädel, ein menschlicher Schädel, schwarz, braun und grün verfärbt, aber gleichwohl ein menschlicher Schädel. Da lagen noch andere, aus deren Augenhöhlen und zerschmetterten Schädeldecken Unkraut wuchs. Nobu bemerkte Metallsplitter und Fetzen von Stoff und Leder, auch ein Stück eines Helms, der halb im Boden vergraben war. Die Knochen waren sauber abgenagt, nirgends waren Vögel oder Hunde zu sehen. Alles war

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