Die Tochter des Schmieds
Gül.
Ihre Haut spannt noch ein wenig.
– Bis dahin bring ich dir ein Buch mit, damit dir nicht langweilig wird, wenn du so im Bett liegst.
Als Onkel Abdurahman weg ist, sagt Arzu zu Gül:
– Ich will nicht, daß man dich so sieht. Wir werden zum Gespött der Leute. Du darfst dieses Zimmer nicht verlassen, bis ich
es dir sage. Und du darfst auch niemanden hereinrufen, ist das klar?
– Ja, sagt Gül.
– Wenn du noch mal eine Tablette haben willst, mußt du mich fragen, in Ordnung? Du hast zuviel davon genommen. Das war gefährlich.
Und gerade als Gül nach etwas zu essen fragen will, sagt Arzu:
|123| – Du hast fast zwei Tage geschlafen, und nun hast du bestimmt Hunger, oder? Soll ich dir etwas warm machen? Wir haben Auberginen,
Reis, Bohnen, Joghurt, Brot. Möchtest du von allem ein bißchen haben?
Gül nickt stumm, damit ihre Stimme nicht wieder im Hals kratzt, und lächelt.
Es ist ein dickes Buch für Erwachsene, das Onkel Abdurahman ihr vorbeibringt. Aber Gül hat nicht viel zu tun, ihre Mutter
gibt ihr Gefängnissocken, denen sie neue Spitzen nähen soll, sonst wird ihr nichts aufgetragen. Also fängt sie an, das Buch
zu lesen. Sie stellt sich die großen Häuser vor, die beschrieben werden, die schick gekleideten Menschen, das fremde Land.
Sie gerät mit den ausländischen Namen schnell durcheinander, dennoch werden die Figuren von Seite zu Seite lebendiger, kommen
ihr näher, obwohl sie in dem Buch kaum etwas aus ihrer eigenen Welt wiederfindet. Schließlich fiebert sie mit der jungen Frau
mit, die angeblich befleckt sein soll. Niemand glaubt ihr die Wahrheit, nämlich, daß sie rein ist. Gül begreift, daß es um
etwas geht, was sie nicht ganz versteht, etwas Großes, Geheimnisvolles, sie begreift aber auch, daß sie niemanden danach fragen
kann. Aber sie weiß, wie es ist, wenn niemand einem die Wahrheit glaubt. Diese Frau fühlt dasselbe wie sie.
In den nächsten vier Tagen bringt Melike Gül Schokolade mit.
Nach zehn Tagen ist nicht mehr viel zu sehen, und Gül darf wieder auf die Straße, wo sie erzählen soll, sie hätte eine Sommergrippe
gehabt. Sie kann spielen, sie kann Onkel Abdurahman das Buch vorbeibringen, das sie ausgelesen hat. Es wird einige Jahre dauern,
bis sie wieder ein Buch liest.
In diesem Sommer spielen die Mädchen ein Spiel, das normalerweise den Jungen vorbehalten ist, sie spielen Murmeln. Gül hat
eine Glasmurmel, die sie zwar mitnimmt, aber nie einsetzt. In der Murmel ist ein orangeroter Feuerstrahl mit blauen Sternen.
Meltem, die zwei Jahre älter ist als Gül, redet so lange auf |124| sie ein, bis Gül die Murmel doch einsetzt. Und an Meltem verliert.
– Noch mal, sagt Gül und fügt hinzu: Du mußt auch wieder diese Murmel nehmen.
– Nein, sagt Meltem, ich nehme eine andere.
– Aber ich habe sie auch genommen.
– Es hat dich ja niemand gezwungen.
– Ich habe es dir zuliebe getan. Und jetzt kannst du sie mir zuliebe nehmen.
– Nein, sagt Meltem, und Gül weiß, daß es keinen Zweck hat, weiterzureden. Sie hat verloren, und sie merkt, wie ihr die Tränen
kommen.
Melike sieht zu Gül, dann steht sie auf, schnappt Meltem die Murmel mit dem Feuerstrahl weg und rennt los. Meltem kann sie
nicht einholen.
Abends gibt Melike ihrer älteren Schwester die Murmel.
– Du hättest sie nicht einsetzen sollen, sagt Melike, immer tust du, was die anderen wollen, und dann bist du traurig. Eigentlich
gehört sie jetzt Meltem, du bist selber schuld.
– Ich werde sie nicht wieder mit nach draußen nehmen, sagt Gül.
Jeden Samstag wird das ganze Haus geputzt, es wird Staub gewischt, die Steinböden werden geschrubbt, der Lehmboden im Keller
wird gefegt, die Fenster werden geputzt. Timur mistet an diesem Tag den Stall aus.
– Pumpt mal Wasser, Kinder, sagt Arzu zu Gül und Melike.
Man muß den langen Hebel am Pumpbrunnen hinter dem Haus hoch und runter bewegen, damit das Wasser angesaugt wird. Nachdem
sie das Becken vor der Pumpe gefüllt haben, müssen Gül und Melike mit Fünfliterkanistern Wasser schöpfen und ihrer Mutter
bringen. Gül fängt an zu pumpen, und als das Becken zu einem Drittel gefüllt ist, sagt sie zu Melike, die etwas abseits auf
einem Stein sitzt:
– Ich bin müde, mein Arm wird lahm, machst du ein bißchen weiter?
|125| – Gleich, sagt Melike und wirft einen Grashalm in die Luft.
Nach zwei Minuten fragt Gül noch mal.
– Gleich, sagt Melike.
– Gleich ist das Becken voll.
Gül pumpt noch
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