Die Tochter des Schmieds
ein bißchen, bis sie nicht mehr kann.
– Komm, sagt sie dann, nur solange ich mich ausruhe.
– Gleich.
– Nur fünfmal pumpen, komm schon.
– Ja. Gleich.
Obwohl sie sich noch ausruhen möchte, fängt Gül wütend an, wieder zu pumpen. Sie braucht die Kraft beider Hände, doch nachdem
sie zweimal gepumpt hat, nimmt sie ihre linke von dem Schwengel, greift sich einen kleinen Stein vom Boden und wirft ihn Richtung
Melike, die damit beschäftigt ist, ihre Schwester nicht anzusehen. Ihr Wurf kommt Gül, die Rechtshänderin ist, sehr ungelenk
vor, und sie erschrickt, als Melike aufschreit. Sie ist nicht davon ausgegangen, daß sie treffen könnte.
Melike hält sich eine Hand vor das Auge, gibt aber keinen Laut von sich. Einen Moment lang kann Gül sich nicht bewegen, dann
läuft sie zu Melike und legt ihr den Arm um die Schulter.
– Schwesterherz, habe ich dich getroffen? Hast du dir weh getan?
– Geh weg, sagt Melike und versucht den Arm abzuschütteln, während Gül gleichzeitig versucht, die Hand vor dem Auge wegzuziehen.
Als Melike nachgibt, ist das erste, was Gül sieht, daß ihre Handfläche ganz rot ist.
– Es ist nichts passiert, sagt sie, aber sie hat schon wieder diese fremde Stimme.
Jetzt sieht Melike auch auf ihre Hand, und in dem Moment, in dem sie das Blut erblickt, fängt sie an zu weinen.
– Nicht weinen, es ist nichts passiert, es ist nicht so schlimm, sagt Gül.
Dieser linkshändig geworfene Stein, dieser Stein, der nicht viel größer als ihre Lieblingsmurmel ist, scheint Melike an der
rechten Augenbraue getroffen zu haben.
|126| Gül hat so etwas schon mal gesehen. Sie ging noch nicht zur Schule, als sie mit ihrem Vater auf dem Markt war, wo sie eine
große Menschenmenge erblickten und Geschrei hörten. Ihre Mutter hätte sie schnell weggezogen, doch ihr Vater nahm sie auf
den Arm und bahnte sich einen Weg durch die Leute, bis sie in der ersten Reihe standen.
An einem Marktstand standen sich zwei Männer gegenüber, vor denen eine aufgeplatzte Wassermelone auf dem Boden lag. Einer
der Männer hatte kein Hemd an, und sein nackter Oberkörper sah aus, als hätte eine Spinne dort ein Netz aus Blut gewoben,
das auch eine Hälfte seines Gesichts und seinen Hals überzog. Der Mann schrie, und mit jedem Ton schien noch mehr Blut aus
der Wunde an seiner Augenbraue zu rinnen. Der andere Mann ging ganz langsam rückwärts. Er schien nicht verletzt zu sein. Gül
verstand die Worte nicht, sie war überwältigt von dem Bild. Ihr Vater schüttelte lächelnd den Kopf, und sie gingen weiter.
– Was ist da passiert? wollte Gül wissen.
– Sie streiten sich wegen Wassermelonen, sagte ihr Vater, der Verkäufer hat garantiert, daß sie reif sind, und der Mann hat
sich beschwert.
Er schüttelte wieder den Kopf.
– Wegen Wassermelonen.
– Muß der Mann jetzt sterben?
Timur blieb stehen.
– Nein, nein, meine Rose. Das ist nicht gefährlich, seine Augenbraue ist aufgeplatzt. Das sieht schlimm aus, aber davon stirbt
man nicht.
Doch Melike blutet und weint, und Gül merkt, wie auch ihr die Tränen kommen. Wenn sie Völkerball spielen, trifft sie nie jemanden.
Und jetzt hat sie mit links ihre Schwester getroffen.
– Komm her, sagt sie, komm, hör auf zu weinen, das geht gleich vorbei.
Sie wäscht Melike das Gesicht und geht mit ihr ins Zimmer, drückt ein Stück Stoff auf die Wunde und hofft, daß es aufhören
wird zu bluten. Melike läßt alles mit sich geschehen, |127| hat aber ihre Schmollmiene aufgesetzt und sagt keinen Ton. Wenigstens hat sie aufgehört zu weinen. Bald darauf blutet es auch
nicht mehr.
– Bleib hier. Und erzähl Mutter nichts davon, hörst du?
– Ich werde dich verpetzen.
– Bitte. Mach das nicht. Laß mich dein Opferlamm sein, aber mach das nicht, sagt Gül, wie sie es von den Erwachsenen gelernt
hat.
– Doch. Und dann schlägt Papa dich heute abend.
– Das tut er nicht.
– Ja, dich schlägt er nie. Aber dafür mußt du auch immer tun, was Mama sagt, und den ganzen Tag zu Hause bleiben. Sie ist
nicht meine Mutter, ich lasse mir das nicht gefallen.
– Wenn du mich lieb hast, dann verpetzt du mich nicht.
– Wenn du mich lieb hast, dann zwingst du mich nicht, Wasser zu pumpen.
– Aber …
– Geh, du mußt Wasser holen.
Gül füllt das Becken und trägt das Wasser zu ihrer Mutter. Den ganzen Tag hat sie Angst, weil sie glaubt, daß Melike ihrem
Vater erzählen wird, was passiert ist, doch erst am Abend sieht
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