Die Tochter des Schmieds
Timur die Kruste an Melikes Augenbraue.
– Mit wem hast du dich heute wieder gezankt?
– Ich bin … Ich bin hinten auf einen Pferdewagen aufgesprungen, sagt Melike, ich wollte ein Stück mitfahren.
Die Bauern fahren häufig mit Pferdewagen, auf denen sie Obst und Gemüse transportieren, durch ihre Straße.
– Und der böse Mann hat einen Stein nach mir geworfen, weil ich auf seinen Wagen gesprungen bin, fährt Melike fort.
– Geschieht dir recht, sagt ihre Mutter.
Melike wird eine kleine Narbe über ihrer rechten Augenbraue behalten. Jahre später wird sie einen Sohn namens Oktay haben,
der nach einer Schlägerei an genau der gleichen Stelle eine Narbe bekommen wird. Melikes Narbe wird Gül eine Zeitlang daran
erinnern, daß sie ihrer Schwester weh getan hat, aber es wird auch eine Zeit kommen, in der sie jedes |128| Mal, wenn sie die Narbe sieht, daran denken wird, daß es schwer war mit Melike. Sie wird den Geruch der Pisse in der Nase
haben und die feuchten Laken unter ihren Händen spüren. Die Narbe wird Gül an die Jahre erinnern, in denen sie fast alles
getan hat, damit es Melike gutgeht. Alles, was sie als Kind konnte. Und was sie nicht hätte tun müssen, weil Melike lieber
kämpfte, als zu dulden.
Sibel ist immer noch blaß, dünn und kränklich, doch sie hat sehr gute Noten, obwohl sie im Winter dreimal eine Woche im Bett
lag und nicht zur Schule konnte. Im Kunstunterricht ist sie die beste in ihrer Klasse, und selbst wenn sie krank ist, sieht
man sie selten ohne Stift und Papier, sie zeichnet Kühe, Schafe, Hühner, Bäume, sie zeichnet ihre Hand oder den Wandschrank
im Zimmer. Die Bleistiftstummel benutzt sie, bis sie klein wie Zigarettenkippen sind.
– Schon wieder einen neuen Stift? fragt ihre Mutter einmal. Du hast doch erst vor vier Wochen einen bekommen.
Timur bekommt das mit und bringt ihr am nächsten Tag drei Bleistifte. Sibels Augen leuchten, und sie rechnet sich aus, daß
sie fast drei Monate zeichnen kann, wenn sie sparsam damit umgeht. Drei Bleistifte sind ein Luxus, den sie sich vorher nicht
mal vorgestellt hat, nicht mal Sezen besitzt drei Bleistifte. Jetzt kann sie stundenlang selbstvergessen irgendwo sitzen und
zeichnen, wenn sie genug Papier findet.
In diesem Sommer zeichnet Sibel Walnüsse und getrockneten Traubensaft, als sie wieder krank ist. Sie weiß auch nicht, wieso
sie gerade das zeichnet und wieso sie Lust darauf bekommt, aber sie ruft Gül und sagt:
– Abla, große Schwester, ich hätte gerne getrockneten Traubensaft.
– Das gibt es nur im Winter, sagt Gül.
– Aber ich habe Appetit darauf.
– Wir werden sehen, sagt Gül und wimmelt sie damit ab, aber am nächsten Tag kommt Sibel wieder an:
|129| – Abla, ich möchte so gerne getrockneten Traubensaft essen.
– Wir werden sehen, erwidert Gül erneut.
Doch als sie die Hausarbeit erledigt hat, geht sie nicht zum Spielen nach draußen. Obwohl ihre Mutter es ihnen verboten hat,
macht sie sich allein auf den Weg in die Stadt, zur Schmiede ihres Vaters.
– Hallo, mein Mädchen, begrüßt Timur sie, was möchtest du, meine Beine kratzen? Melike war gerade schon da.
Gül sagt nichts, steht einfach in der Tür, und sehr bald ist ihr Vater wieder in die Arbeit vertieft und scheint sie vergessen
zu haben. Die Luft ist schwer vom Geruch der Kohlen und seinem Schweiß, der ihm in dicken Tropfen vom Kinn fällt und auf dem
Boden nasse Flecken hinterläßt. Als er eine Pause macht, sagt Gül:
– Kann man auch im Sommer getrockneten Traubensaft essen?
– Ja, wenn man welchen findet, kann man ihn auch im Sommer essen.
Warum getrockneten Traubensaft, fragt sich Gül, warum ausgerechnet getrockneten Traubensaft?
– Können wir welchen finden? fragt Gül. Sibel möchte so gerne welchen haben.
– Meine kleine, dünne Sibel, die nur Haut und Knochen ist, schmunzelt der Schmied.
Dann macht er sich wieder an die Arbeit. Etwas später geht Gül, ohne sich zu verabschieden.
Abends hat ihr Vater keinen getrockneten Traubensaft mitgebracht. Während die Nachbarn und ihre Mutter vor den Hauseingängen
sitzen und Radio hören, ist Timur im Stall und kümmert sich um die Kühe. Gül steht einige Schritte vor der Stalltür und ruft
hinein:
– Hast du getrockneten Traubensaft gefunden?
– Ja, sagt er, einer der Dorfbewohner hat wohl noch etwas. Damit unsere Sibel etwas Fleisch auf die Knochen bekommt … Komm
mal her, komm her, hab keine Angst.
|130| Vorsichtig tritt Gül
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