Die Tochter des Schmieds
Militär, meiner im Knast. Es ist kein
Krieg, deiner kommt nach vierundzwanzig Monaten wieder, und bei meinem weiß es nur der liebe Gott, ob und wann er kommt.
– Wieso … Wieso sitzt er eigentlich, Suzan Abla?
– Wegelagerei. Angeblich Wegelagerei.
– Wie also?
– Ach, frag nicht, Liebes. Murat stammt aus einem Dorf bei Erzincan. Dort hat der Dorfvorsteher bei einem Streit seinen Vater
getötet. Murat wollte seinen Vater rächen, aber der Dorfvorsteher hatte seine Hunde überall, seine Gehilfen und |221| Speichellecker. Als herauskam, daß er seinen Vater rächen wollte, mußte Murat fliehen, in die Berge. Dort war er ein Wegelagerer.
Ach, Wegelagerer, er war ein Kind, das Wegelagerer gespielt hat, er war fünfzehn Jahre alt. Nach einem Jahr hat er diesem
Leben abgeschworen und ist hierhergezogen, er hat Pferde gekauft und verkauft, von Pferden versteht er was, er hat sein Geld
im Schweiße seines Angesichts verdient, er hat Schafe gezüchtet, sich Land gekauft, und mein Vater hat mich mit ihm verheiratet,
weil er so ein fleißiger Mann war, weil er sich nie beklagt hat und immer auf die Kraft seiner Arme vertraut. Und vor allem
weil er selber auch aus Erzincan stammt. Und vor fünf Monaten hat ein Dorftrottel, schon wieder so ein Vorsteher oder was
er ist, Murat verpfiffen. Der Mann fühlte sich übers Ohr gehauen bei einem Geschäft, und er wußte von Murats Vergangenheit.
Sie hatten nicht mal Beweise, der Vorsteher wird schon seine Leute gehabt haben. Verflucht soll er sein, er möge blind, taub
und heimatlos enden, dafür, daß er mir meinen Mann weggenommen hat.
Gül sieht Suzan an, Suzans Blick ist fest und hart.
– Auf dieser Welt kann jederzeit alles passieren, sagt sie und schüttelt den Kopf. Nun ist er weg, und nur der Herr weiß,
wann er wiederkommt. Wenn mein alter Vater nicht wäre, müßten wir betteln. Die Kinder brauchen einen Vater, oder? Man kann
doch ohne Vater keine Kinder großziehen. Es sei denn, man lebt wie ihr. Der Herr bewahre, aber wenn einer deiner Schwager
sterben sollte oder in die Fremde müßte, dann wären immer noch genug Männer im Haus, und sollte einer deiner Schwägerinnen
etwas zustoßen, müßte der Mann nicht noch mal heiraten, damit seine Kinder versorgt sind, jeder kümmert sich um jeden. Aber
wir, wir sind ja nicht von hier, und meine Geschwister sind alle nach Istanbul gezogen, um dort Arbeit zu finden, wir haben
niemanden … Ach, was rede ich da, meine Gute, du hast es ja auch nicht leicht, nicht wahr? Wir haben es alle nicht leicht.
– Es geht mir gut, sagt Gül, und sie glaubt es selber. Gerade, |222| als Suzan gesagt hat, daß die Kinder einen Vater brauchen, mußte sie an Recep denken. An Recep, den sie nie wiedersehen wird.
Jetzt sitzt Gül abends manchmal mit ihren Schwägerinnen oder ihrer Mutter beisammen, doch oft genug ist sie in ihrem Zimmer
und liest im Schein der Petroleumlampe Bücher. Bücher, die sie sich aus der Bücherei geliehen hat, oder Bücher, die es billig
zu kaufen gab. Sie liest nun alles, was sie in die Finger kriegen kann. Es erinnert sie ein wenig an den Sommer, in dem Onkel
Abdurahman ihr das Buch gegeben hat, das sie nur schwer verstanden, aber schließlich gern gelesen hat. Sooft Gül an Onkel
Abdurahman denkt, weiß sie nicht, ob sie sich ekeln soll, fürchten oder Mitleid haben.
Anders als in den Fotoromanen aus dem Herbst ihrer Verlobung, erstreckt sich in den Büchern, die Gül liest, die Handlung oft
über mehrere Jahre. Die Menschen verändern sich, verstricken sich in etwas, nur weil sie irgendwo mal einen winzigen Fehler
gemacht haben, den sie zu verbergen versuchen. In den Büchern steht, wie junge Frauen sich fühlen können, da steht etwas über
Schande und Leid, über Gerede und Klatsch, über Aufrichtigkeit und Mut.
Doch nirgends steht, wie es sein kann, im Haus der Schwiegereltern als Dienstmagd zu hausen, weil der Ehemann beim Militär
ist. Denn so kommt Gül sich vor, als es langsam Frühling wird. Wie eine Dienstmagd. Dauernd heißt es, Gül, tue dies, Gül,
tue das. Gül, die Windeln müssen gewaschen werden, Erkan muß aufs Klo gebracht werden, Gül, die Kleine schreit, schau doch
mal schnell, Gül, hol Holz aus dem Keller, Gül, geh schnell noch mal Kartoffeln kaufen, Gül, Gül, Gül.
Sie murrt nicht. Wie könnte sie auch. Von ihr wird Respekt erwartet. Aber wenn sie alles gut und schnell erledigt, lobt sie
auch hier niemand. Es ist wie zu
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