Die Tochter des Teufels
dem Rocksaum trennte, und ging dabei oft zur Tür, sah hinaus in den Gang des Waggons und kontrollierte, ob niemand in die Nähe des gesperrten Abteils kam.
»Euer Hochwohlgeboren«, sagte er dann zu Gurjew. »Ich bin Soldat der Befreiungsarmee und tue so etwas! Ein Schwein bin ich eigentlich! Hätte ich nicht vier Kinder …«
Gurjew winkte ab. Er hatte sich einen Plan zurechtgelegt. Mit dem Zug nach Wladiwostok, zu dem großen Hafen, den die Schiffe aller Nationen anliefen. Hier mußte es möglich sein, auf ein amerikanisches Schiff zu kommen und Rußland zu verlassen. Dann konnte man ein neues Leben aufbauen … in den USA, in Südamerika, vielleicht auch im westlichen Europa … irgendwo … nur weit weg vom roten Rußland!
»Wenn der Zug in der Nacht hält, verlassen wir den Waggon«, sagte Gurjew. »Um uns brauchst du dich nicht zu kümmern, Ilja … sieh zu, daß du dich durchschlägst nach Süden.«
Der Feldwebel Posnakow nickte stumm. Er verließ das Abteil, stellte sich draußen im Gang an die Tür und starrte in die Nacht hinaus.
Zwei Tage durchratterte der Zug die Steppe und die lichten Lärchen- und Birkenwälder. Gurjew und Nadja besprachen immer wieder die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten konnten. Bis Wladiwostok waren sie sich einig … dann trennten sich ihre Ansichten. »Rußland verlassen?« fragte Nadja entsetzt. »In Amerika weiterleben? Das können wir nicht, Niki. Was sind wir ohne Rußland?«
In der dritten Nacht ihrer Fahrt hielt der Zug auf freier Strecke. Einige Kilometer weiter hatten rote Kommandotrupps es trotz der Kosakenstreifen gewagt, die Strecke mit gefällten Bäumen zu blockieren. Nun räumte man das Hindernis weg, es konnte Stunden dauern …
»Es ist soweit«, sagte Gurjew, als Posnakow mit ihnen ausstieg und im Schatten des Waggons stehenblieb. »Leb wohl, Ilja Prokopiwitsch, und viel Glück.«
»Auch Ihnen viel Glück, Hochwohlgeboren«, sagte Posnakow, drückte Gurjew die Hand und küßte Nadja beide Hände. »Wir werden uns nie wiedersehen, aber ich werde oft an Sie denken …«
Dann machte er eine Kehrtwendung, wie auf dem Kasernenhof, und verschwand in der Dunkelheit einer Buschgruppe, die nahe an den Gleisen wuchs und überging in den Wald.
Unbemerkt erreichten Gurjew und Nadja den Waldrand und tauchten unter in der Schwärze der Wipfelschatten. Sie gingen über eine Stunde ziellos geradeaus durch den Wald, langsam, denn das Gehen war Nadja schon beschwerlich, dann rasteten sie, tranken aus der blechernen Feldflasche des Feldwebels Posnakow kalten Tee und lauschten in die Stille der Nacht.
Von ganz weit her trug der Wind Geräusche heran. Ein Fauchen, ein Pfeifton … der wartende Zug ließ Dampf ab.
Nadja gab die Blechflasche an Gurjew zurück. Ihr schmales Gesicht unter dem Kopftuch war rührend jung.
»Gehen wir weiter?« fragte sie und erhob sich. Gurjew nickte.
»Bis zur nächsten Siedlung«, sagte er beklommen. »Dort werde ich versuchen, Zivilkleider zu bekommen. Und dann zurück zur Bahn! Es bleibt uns kein anderer Weg als der Zug.«
Nadja blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Du denkst an mich und das Kind …«
»Ja, Nadjuscha.«
»Wir halten durch, wir zwei …«
»Es wäre Wahnsinn.« Gurjew schüttelte den Kopf. »Irgendwo auf diesen tausend Werst gehen wir zugrunde. Entweder der Zug – oder wir haben das Spiel verloren! Es bleibt uns keine Wahl …«
Gegen Mittag erreichten sie eine Waldsiedlung von Burjäten. Die Männer waren auf der Jagd, nur die Frauen und Kinder und ein paar Greise saßen vor den Jurten, rieben Körner zu Mehl oder flochten Matten.
In diesem Burjätendorf bekam Gurjew zivile Kleider. Hose, Hemd und Jacke für hundert Rubel, einen Wolfspelz für zweihundert Rubel, denn der Winter stand ja bereit, über Sibirien zu ziehen, einen Fellsack aus Hundefell für zehn Rubel, in den er seine Uniform stopfte.
»Ich gebe sie nicht her«, sagte er, als Nadja meinte, er solle sie verbrennen. »Mich von der Uniform trennen, bevor ich weiß, ob Rußland nicht doch wieder einen Zaren bekommt? Das wäre wirklich Verrat! Nein! Die Uniform geht mit uns in die Freiheit, ganz gleich, wo diese Freiheit ist …«
Nadja schwieg. Wieder einmal verstand sie Gurjew nicht.
Als einfache Bauern, in grobes Zeug gekleidet, den Pelz um die Schulter gelegt, die Fellbeutel in den Händen, so ließen sie sich von einem Tarantas zurück zur Bahnlinie bringen.
In Tschubilaisk, einer winzigen Station, warteten sie fünf Tage auf einen Zug aus
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