Die Tochter des Teufels
Hinter ihm stand Nadja, klein, kindlich fast, kaum zu sehen in dem langen Pelz.
»Was machen Sie hier?« schrie Sinjew. »Zu den Wagen!« Dann hob er die Schultern, als fröre er, nestelte seinen Revolver aus der Ledertasche und reichte ihn Nadja hin. »Hier … Sie werden ihn nötig haben, wenn die Mongolen uns überreiten.«
Nadja steckte den Revolver in die Tasche ihres Pelzes. »Sie rennen genau auf die Mongolen zu …«, sagte sie leise.
»Wer?« fragte Sinjew heiser.
»Die Pferde …«
»Wenn ich den erwische, der das getan hat …«, sagte Sinjew dumpf.
»Ich war es«, sagte Nadja fest.
»Sie?« Sinjew ballte die Fäuste. »Nadja Grigorijewna, Sie zwingen mich, in Ihnen keine Frau mehr zu sehen …«
»Warten Sie ab, Oberst … in fünf Minuten wird der Paß frei sein … Durch die Troika, die sie ziehen. Ich habe sie mit zwei Kisten Sprengstoff und vier Säcken Pulver beladen …«
»O Himmel! O Gott!« Sinjews Stimme überschlug sich. »Deckung!« brüllte er. »Alles volle Deckung!« Er packte Nadja und riß sie mit sich in den Schnee, als er sich hinfallen ließ. Im Liegen zog er sie an sich und warf sich mit dem Oberkörper auf sie.
Die Sekunden wurden zur ewigen Qual. Wiehernd rasten die Pferde auf den Paß zu. Von der Schlucht her kam lautes Lachen. Die mongolischen Reiter bogen sich in ihren Sätteln, zeigten mit ausgestreckten Armen auf die drei schreienden Pferde und die brennenden Schwänze. Dann rissen sie ihre Gewehre herunter und warteten, bis die Gäule nahe genug heran waren.
»Jetzt!« sagte Sinjew und drückte Nadja tiefer in den Schnee. »Jetzt! Gott sei uns gnädig …«
Die Mongolen schossen. Sie zielten auf die Pferde, sie feuerten aber auch auf den hüpfenden Wagen. Und dann war der Tag nicht mehr Tag, der Himmel nicht mehr blau, die Sonne nicht mehr golden, der Schnee nicht mehr weiß … in einem ungeheuren Krachen, das die Trommelfelle in den Ohren eindrückte, zerbarst der Wagen mit den Sprengladungen und dem Pulver. Erde, Schnee, Holzteile und zerfetzte Menschen- und Pferdeleiber wirbelten durch die Luft … und wo die beiden ersten Reihen der mongolischen Reiter gestanden hatten, dehnte sich jetzt eine flache, schwärzliche, qualmende Mulde, ein ausgehobeltes Loch im Schnee, groß genug, ein ganzes Haus darauf zu setzen.
Ächzend stemmte sich Oberst Sinjew auf die Knie, überblickte das Feld der zerrissenen Leichen und zog Nadja zu sich hoch. Er umarmte sie und küßte sie auf die blassen, kalten, zusammengepreßten Lippen.
»Nadja Grigorijewna«, sagte er tonlos. »Sie haben uns das Leben gerettet. Vergessen Sie, daß ich Ihr Feind sein muß. Verfügen Sie über mich.«
Nadja schloß die Augen. Was vor ihr lag, war zu grauenvoll, um es anzusehen. Zwischen den Leichen von Pferden und Menschen krochen einige Mongolen herum, mit abgerissenen Gliedern, und schrien um Hilfe. Russische Soldaten rannten auf sie zu und erschossen sie. Es war das beste, so grausam es auch war … wer konnte ihnen hier helfen?
»Lassen Sie Nikolai frei«, sagte sie leise.
»Das ist das einzige, was ich nicht kann.« Sinjew drückte Nadja an sich. »Für Sie kann ich alles tun.«
»Ich lebe nur für Nikolai, Oberst.«
Sinjew nickte. Er stand auf und zog auch Nadja aus dem Schnee. Die Soldaten stürmten jetzt unter Leutnant Narsochin in den Paß … er war verlassen. Der Weg nach Ignatjewka war frei.
»Ich werde mit dem General reden«, sagte Sinjew tief atmend. »Vielleicht wird er Gurjew Ihretwegen begnadigen. Aber erst müssen wir in Tschita sein … und das sind über zweitausend Werst …«
Nach einer Stunde zog die Kolonne weiter.
Am zehnten Tag erreichten sie Chabarowsk.
Oberst Sinjew zog mit seiner Sträflingskolonne in ein verwahrlostes Bauerngut, das von einem Bretterzaun umgeben war. Hier wartete er auf das Verladen seiner vierhundert Verdammten. Der Gouverneur schickte Verstärkung … fünfzig verwegene sibirische Scharfschützen, die in zwei Tagen rund um das Gut vier Wachttürme aus Rundstämmen bauten und von dort aus Tag und Nacht das Lager bewachten. Wer sich dem Bretterzaun auf vier Schritt näherte, wurde ohne Anruf beschossen …
Oberst Sinjew, der das Zimmer des Gutsherrn bewohnte, ließ am vierten Tag des Wartens Nadja zu sich bitten. Er schob ihr ein beschriebenes Blatt Papier hin und lehnte sich zufrieden zurück. »Lesen Sie, Nadja Grigorijewna«, sagte er, »was ich an Admiral Koltschak geschrieben habe. Es wird seine Wirkung nicht verfehlen. Ich habe
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