Die Todesbotschaft
Verfassung sie damals war. Vielleicht war es eine Kurzschlusshandlung, vielleicht hat sie keinen anderen Ausweg gesehen. Sie war doch noch so jung, als du auf die Welt kamst. Denk mal an all diese Fälle von erweitertem Suizid, über die immer wieder etwas in den Zeitungen steht. Es heißt, diese Mütter seien keine Monster, die ihren Kindern bewusst etwas antun wollen. Sie liebten ihre Kinder und wollten sie vor etwas bewahren, das in ihren Augen weit schlimmer sei als der Tod. Sie wollten sie nicht allein und schutzlos zurücklassen, wenn sie sich selbst das Leben nehmen.«
»Ich habe aber auch schon von Müttern gelesen, die sich dadurch an ihrem Partner rächen wollen.«
Eva-Maria winkte ab. »Ja, natürlich, die gibt es auch. Genauso die, die überfordert oder psychisch krank sind. Ich weiß. Es mag seltsam in deinen Ohren klingen, aber ich empfinde Mitgefühl mit diesen Frauen. Ganz besonders mit denen, denen es zwar gelingt, ihr Kind zu töten, aber nicht sich selbst. Für die muss das Weiterleben die Hölle sein. Eine lebenslange Strafe ist nichts dagegen, wenn du mich fragst.«
Theoretisch konnte ich dem folgen, was sie sagte, aber in der Praxis? »Da liegt ein Baby vor dir in der Wiege«, insistierte ich leise. »Es sieht dich an, vielleicht verzieht es sogar gerade den Mund zu einem Lächeln. Es streckt seine Ärmchen nach dir aus. Und dann nimmst du ein Kissen und drückst es auf sein Gesicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Niemals könnte ich so etwas tun. Unter gar keinen Umständen.«
»Dann hast du keine Vorstellung von den Umständen, in die du geraten kannst. Ich glaube, man kann sich nur wünschen, nicht so zu handeln. Und froh sein, wenn man nie in solche gefährdenden Situationen gerät.«
»Mein Vater ist überzeugt, sie habe sich an ihm rächen wollen.«
»Vielleicht kommt er mit dieser Erklärung am besten zurecht. Mir klingt sie zu einfach. Vielleicht hat sie tatsächlich keinen anderen Ausweg gesehen.«
»Dass sie sich in einer Notlage nicht anders zu helfen wusste, als sich und mich umzubringen, könnte ich ihr vielleicht sogar verzeihen. Aber als es ihr besserging, wollte sie von meinem Vater nur Geld für einen Neuanfang. Für mich hat sie sich nicht mehr interessiert.«
Eva-Maria schenkte sich Apfelsaftschorle nach und nahm einen Schluck. »Das ist eine mögliche Interpretation. Eine weitere wäre, dass sie sich nicht mehr in deine Nähe getraut hat. Vielleicht hatte sie Angst, sie könnte es noch einmal versuchen.« Sie zog einen Fächer aus ihrer Tasche und fächelte sich kühle Luft zu. »Ich kann verstehen, dass dich das beschäftigt, trotzdem solltest du dich da nicht hineinsteigern. In den letzten drei Wochen ist so viel Schlimmes geschehen. Sei gut zu dir und lade dir nicht noch mehr auf.«
Als in diesem Moment im Vorderhaus eine Sopranstimme ein Wiegenlied anstimmte, sahen wir uns an und liefen wie auf Kommando zum Fenster.
»Ist das diese Opernsängerin?«, fragte Eva-Maria.
Ich nickte. »Wenn sie ihrem Baby abends vorsingt, kommt es mir immer so vor, als würden alle Nachbarn innehalten und lauschen. Wahrscheinlich erinnert es sie genauso wie mich an ihre Kindheit. Elly hat mir immer vor dem Einschlafen
Guten Abend, gute Nacht
oder
Der Mond ist aufgegangen
vorgesungen.«
»Wie schön«, meinte Eva-Maria mit einem Lächeln und schloss die Augen, um sich ganz dieser wunderschönen Stimme hinzugeben.
Die Nacht verbrachte ich mit meinen Erinnerungen an Amelie. Ich sog diese inneren Bilder auf, um das eine Bild fernzuhalten, das ich nicht ertragen würde. Wann immer es sich mir zu weit näherte, leistete ich heftigen Widerstand. Ich hätte gerne Musik gehört, aber ich wagte es nicht. Sollte jemand versuchen, bei mir einzubrechen, wollte ich ihn rechtzeitig hören, um den Alarm auszulösen.
Gegen Morgen schlief ich endlich ein, nur um in kurzen Abständen immer wieder schweißgebadet aufzuwachen. Mein Körper fühlte sich an, als sei ich untrainiert einen Marathon gelaufen. In dem Gefühl, mich nicht bewegen zu können, blieb ich den ganzen Sonntag über im Bett und trank Unmengen von Wasser, nur um sie gleich wieder auszuschwitzen. Am frühen Nachmittag klingelte einer meiner Bewacher, um sich zu vergewissern, dass bei mir alles in Ordnung sei. Er musste mich nur ansehen, um zu begreifen, dass nichts in Ordnung war, dass es in meiner derzeitigen Verfassung aber auch nichts gab, was in seinen Zuständigkeitsbereich gefallen wäre.
Als ich mich gegen Abend ein wenig
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