Die Todesbotschaft
ausspannen. Obwohl ich auch Jahre hatte, in denen ich auf Urlaub verzichten musste. Das Geld, wissen Sie. Jetzt könnte ich fahren, aber …«
»Wie lange ist Herr Brandt denn schon weg?«, fragte ich.
Sie hatte eine ganz eigene Art der Zeitrechnung. Adrian und ich bekamen eine Zusammenfassung der letzten sechs Folgen ihrer Lieblingsserie im Fernsehen. Da sie wöchentlich ausgestrahlt wurde, bedeutete es, dass Hartwig Brandt vor sechs Wochen zu seiner Vertreterreise aufgebrochen war. Ich fragte sie, ob er möglicherweise zwischendrin zurückgekehrt sein könnte, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte. Theoretisch wäre das möglich, antwortete sie, aber er habe es sich zur Angewohnheit gemacht, sich bei ihr ab- und wieder anzumelden. Damit sie keinen Schreck bekomme, wenn in der Wohnung nebenan plötzlich Geräusche zu hören wären. Hartwig Brandt sei ein überaus sensibler und höflicher Mann. Vielleicht ein wenig zu unscheinbar für die Frauen von heute. Sie habe ihm schon das eine oder andere Mal geraten, ein wenig mehr aus sich zu machen, aber da habe er nur abgewinkt.
»Wer schaut denn nach den Pflanzen von Herrn Brandt, wenn er auf Reisen ist?«, fragte Adrian.
»Er hat keine Pflanzen«, antwortete sie.
»Also hat er Sie schon einmal in seine Wohnung eingeladen, das ist aber nett.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich war noch nie nebenan. Herr Brandt sagt immer, er habe zu wenig Zeit zum Aufräumen, und seine Unordnung wolle er mir nicht zumuten.«
»Wer kümmert sich denn um seine Post, wenn er unterwegs ist?«, fragte ich.
»Ich. Herr Brandt sagt immer: ›Meine Post könnte nirgends besser aufgehoben sein als bei Ihnen, Frau Kogler, Sie als ehemalige Postbotin …‹« Sie gestikulierte Richtung Flur. »Da draußen stapeln sich seine Briefe inzwischen. Daran können Sie sehen, wie lange er schon unterwegs ist. Wenn Sie mich fragen, wird es Zeit, dass er sich etwas anderes sucht. In der Pharmabranche wird mit viel zu harten Bandagen gekämpft. Man sieht ja so einiges im Fernsehen. Aber ich sage ihm immer: Lassen Sie sich bloß nichts gefallen, Herr Brandt.«
»Haben Sie eventuell seine Handynummer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wieso fragen Sie mich das eigentlich alles? Kommen Sie von der Behörde?« Sie hatte das Wort kaum ausgesprochen, als ihr Blick misstrauisch wurde.
»Nein«, winkte ich ab und zog dabei ein Gesicht, als würde ich lieber tot umfallen, als für eine Behörde zu arbeiten. »Wir kommen vom hiesigen Tischtennisverein. Herr Brandt ist passives Mitglied bei uns. Er war einmal einer unserer Besten. Nur ist er, wie Sie wissen, wegen seines Jobs viel zu selten da. Na ja, langer Rede kurzer Sinn: Nächste Woche findet ein großes Turnier statt. Leider hat sich einer unserer wichtigsten Spieler ein Bein gebrochen. Und da wollten wir Herrn Brandt fragen, ob er ausnahmsweise einspringen kann. Er hat nämlich mal erzählt, dass er auch auf Reisen hier und da eine kleine Runde spielt, um im Training zu bleiben. Unglücklicherweise haben wir seine Telefonnummer falsch notiert, deshalb sind wir hergekommen.« Ich staunte selbst, wie leicht mir die Lügen inzwischen über die Lippen kamen. Und ich fragte mich, woher ich das Recht nahm, über meinen Vater zu urteilen.
»Soll ich ihm etwas ausrichten, wenn er zurückkommt?«, fragte sie. Ihr Misstrauen war wie weggefegt.
»Nicht nötig«, winkte ich ab, »wir schieben ihm einfach eine Nachricht unter der Tür durch.«
»Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, dass er so sportlich ist.« Ihrem Tonfall nach zu urteilen, stieg er dadurch noch mehr in ihrem Ansehen. Sie dachte nach. »Was ist, wenn er nicht rechtzeitig zum Turnier zurück ist? Verliert Ihr Verein dann?«
»Das ist zu befürchten.«
Der Himmel war an diesem Nachmittag mit Wolken verhangen, es sah nach einem Gewitter aus, das hoffentlich die ersehnte Abkühlung bringen würde. Noch war die Luft erfüllt von drückender Hitze. Adrian und ich saßen vor dem Kaiser Otto, meinem Lieblingscafé im Glockenbachviertel, das ein beliebter Treffpunkt junger Familien war und Statistiken über mangelnden Nachwuchs Lügen strafte.
Während jeder von uns ein Eis löffelte, überlegten wir uns eine Strategie für ein Gespräch mit Tobias. Am besten würde es sein, ein Treffen in seinem Haus zu vereinbaren. Im Büro würden die anderen Partner sofort Wind davon bekommen, und in einem Restaurant oder Café konnte er jederzeit aufstehen und gehen. Also rief ich ihn an, sagte, ich
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