Die Töchter der Lagune
erinnerte. Es machte ihm Angst. Mehr als einmal hatte er in den vergangenen Wochen solche Ausfälle gehabt, für die er keine Erklärung fand. Was geschah mit ihm?
Ehe er den erschreckenden Gedanken weiterverfolgen konnte, erklang hoch über den Dächern eine schrille Alarmglocke. „Sie kommen!“, brüllte der Ausguck auf der Porta de Limassol , während er wie ein Wilder die Fahne hin- und herschwang. Beinahe gleichzeitig erhoben die Hörner der Santa Napa Bastion, der Andruzzi Bastion, der Camposanto Bastion und der Arsenal Bastion ihre dröhnenden Stimmen zum Himmel, der von feurig roten Zirruswolken überzogen war. „Diese verdammten Hunde!“, knurrte Christoforo, der den teuflisch klugen Plan des osmanischen Kommandanten sofort durchschaute. Indem sie die gesamte Südmauer zwischen Ravelin und Arsenal gleichzeitig angriffen, zwangen die Belagerer die Eingeschlossenen dazu, ihre Verteidigungslinie auszudünnen. Während er Kommandos und Anweisungen schrie, eilte er zum Landtor, wo die ersten Kanonenkugeln bereits mit solcher Wucht einschlugen, dass die Musketiere die hölzernen Geländer des Wehrganges umklammerten, um vom Aufprall nicht zu Boden geschleudert zu werden.
Die vergangenen beiden Wochen waren in fieberhaften Vorbereitungen auf den nächsten Sturm verflogen, da sich die Verteidiger ihrer Verwundbarkeit wohl bewusst waren. Doch als Christoforo die ausgetretenen Stufen hinaufhastete, war er von dem Anblick, der sich ihm bot, entsetzt. Der Horizont war schwarz von Reitern, die auf die Stadtmauer zupreschten. Furchtlos duckten sie sich unter den zahllosen Geschossen ihrer eigenen Leute hindurch, die aus den Feuer speienden Mündungen einer Unzahl von Kanonen donnerten. Die Osmanen hatten ihre feststehenden Batterien ergänzt durch wendigere, von Pferdekarren gezogene Kanonen. Diese bedeckten die bereits bröckelnden Mauern mit einem unaufhörlichen Hagel von Kanonenkugeln und rissen klaffende Wunden in die mühsam ausgebesserten Steinquader. Zweihundert Schritte vor dem äußersten Hang des Stadtgrabens teilte sich die Welle der Reiter und Fußsoldaten. Und zwei mächtige Brecher trafen den Turm der Arsenal Bastion und den Ravelin, während Pfeile wie Gischt in einem Sturm gegen die Mauern klatschten. Den Musketieren blieb kaum genug Zeit, die Waffen an die Schultern zu heben, bevor Dutzende von ihnen von Pfeilen durchbohrt über die Zinnen stürzten.
„Runter! Duckt euch!“, donnerte Christoforo, der versuchte, den Höllenlärm der Kanonen und Musketen zu übertönen. „Benutzt die Schießscharten!“ Zwar schränkten die engen Schlitze in der Mauer das Schussfeld der Schützen ein, aber gleichzeitig boten sie ihnen Schutz vor den surrenden Pfeilen der Türken. Diese prasselten inzwischen in solcher Dichte auf die Verteidiger nieder, dass die frühe Morgensonne durch sie verdunkelt wurde. Eine Explosion folgte der anderen. Da die Abstände extrem kurz waren, konnte das Ohr nicht länger zwischen den einzelnen Schüssen unterscheiden. Der bereits stark beschädigte Ravelin schien unter dem Ansturm der türkischen Soldaten zu schwanken, als diese in immer größerer Zahl über die Mauern schwappten, die sie mit Seilen und Enterhaken bezwangen. Jedem erschossenen Türken schienen zwei weitere Angreifer über die dicken Mauern der hufeisenförmigen Vorschanze zu folgen.
Weiter unten – an der Arsenal Bastion – standen die Dinge nicht viel besser. Ein unerschöpflicher Vorrat an osmanischen Soldaten schien diejenigen Kameraden zu verstärken, die auf heftigen Widerstand stießen. Bald schon gaben die Stadtmauern dem immensen Druck nach und schreiende Männer strömten auf das Sperrfeuer der Verteidiger zu. Es schien, als würden sie durch Krater und Geröllhaufen in die Stadt gesaugt, während die gesamte Szene vom weißen Dampf des Schießpulvers verwischt wurde.
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Zypern, vor den Toren Famagustas, 9. Juli 1571
Selims Pferd tänzelte nervös. Obwohl er hinter den Kampflinien zurückgeblieben war, warf die kapriziöse Stute unwillig schnaubend den Kopf, und ihre Hinterhand zuckte bei jedem Kanonenschuss. Er war nicht gerade der beste Reiter, weshalb er sich innerlich verfluchte, in einem Anfall königlicher Arroganz die temperamentvolle Araberstute bestiegen zu haben. Allerdings hatte er die unterdrückte Verachtung der kampferprobten Bogenschützen gespürt, als er sich den Ställen genähert hatte. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, den fetten Bauch unter
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