Die Töchter der Lagune
hatte ihr geholfen, Trauer und Wut mit Angelina teilen zu können. Der Berg an Schuldgefühlen, die auf ihrem Gewissen lasteten, war dadurch kleiner geworden. Ihre Schwester hatte Francescos Worte wiederholt, und Desdemona hatte eine Weile über sie nachgegrübelt. Er hatte recht. Sie war sicherlich nicht die erste Tochter, die ohne die Einwilligung ihrer Eltern einen Gatten wählte, und sie würde auch nicht die letzte sein. Auch war Christoforo weder ein Mann von zweifelhaftem Ruf, noch ein ehrloser Schurke, sondern ein hoch angesehenes Senatsmitglied. Es würde immer Momente im Leben einer jungen Frau geben, in denen sie Entscheidungen fällen musste, die einen klaren Standpunkt erforderten. Und offensichtlich, dachte sie entschlossen, war es Teil der menschlichen Natur, dass die jüngere Generation Entscheidungen fällte, mit denen die Älteren nicht einverstanden waren. Die Tatsache, dass ihr Vater nicht mit dem Verlust seiner ältesten Tochter zurechtkam, war schrecklich. Aber sie konnte die Dinge nicht ungeschehen machen. Hätte er ihre Mutter nicht so vollständig aus seinem Gefühlsleben ausgeschlossen, dann hätte diese ihm helfen können, dachte sie bitter.
Die einzige Person, zu der er wirklich eine tiefe Bindung gehabt hatte, war sie selbst gewesen. Wie oft hatten sie zusammengesessen und geredet, bis das Feuer im Kamin erstarb, während der Vater seine politischen Ansichten mit ihr teilte wie mit dem Sohn, den er nie gezeugt hatte. Es hatte ihr beinahe das Herz gebrochen, ihn zu hintergehen. Doch die Liebe, die sie für Christoforo empfand, war so überwältigend anders als die Liebe für ihre Eltern, dass sie nie eine wirkliche Wahl gehabt hatte. Und war es nicht ihr Vater gewesen, der Christoforo in ihr Haus eingeladen hatte? War es nicht sein eigenes Verschulden? Sie wischte die schmerzlichen Gedanken mit einer ungeduldigen Geste fort. Am Sonntag würde sie ihr Gewissen erleichtern, indem sie zur Beichte ging. Pater Antonio würde ihr Trost spenden und ihre aufgewühlten Gefühle beruhigen. Bis dahin würde sie versuchen, sich auf die Dinge zu konzentrieren, auf die sie noch Einfluss nehmen konnte, anstatt die Vergangenheit zu betrauern. Hoch und heilig hatte Angelina ihr versprechen müssen, am Sonntag die ersten Vorbereitungen für die Hochzeit mit Francesco zu treffen.
Allmählich überwältigte sie die Erschöpfung. Der Tag war sowohl emotional als auch körperlich ermüdend gewesen, und sie sehnte sich nach Christoforos Anwesenheit. Sie hatte ihn nur kurz bei einem übereilten Mittagessen zu Gesicht bekommen, doch er war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, um ihr viel Aufmerksamkeit zu zollen. In dem Versuch, ihr Innerstes zu ordnen, stand sie vor einem der hohen Fenster in ihrer Kammer und starrte auf die Stadt zu ihren Füßen hinab. Die meisten der Männer waren noch auf ihren Posten, sodass die Zitadelle unheimlich leer und verlassen dalag. In der Ferne sah sie, wie sich eine Schlange aus Lichttupfern den Weg durch die engen Gassen der Altstadt auf die Burg zuwand, wobei die Flammen der Fackeln im Wind tanzten. Plötzlich schien die Luft in dem überheizten Raum zu schwer zum Atmen. Sie entriegelte die schweren Doppelfenster und stieß die Flügel auf, um gierig die kühle Nachtluft einzusaugen. Die Sonne war im Westen verschwunden, doch der Horizont glomm noch in einem üppigen Blutrot, fast als ob ein Feuer am Himmel loderte.
Sie war in einen traumartigen Zustand versunken. Daher schrak sie zusammen, als sich die Tür zu ihrer Kammer öffnete und Christoforo, von dessen schweren Stiefeln sich dicke Dreckklumpen lösten, hereingetrampelt kam. Sein Gesicht war mit getrocknetem Schweiß verkrustet, und die Uniform hatte im Lauf des Tages schwer gelitten. Mit einem erleichterten Seufzer sank er in einen Stuhl und begann, sich die Stiefel von den Füßen zu zerren. „Ich helfe dir“, erbot sich Desdemona hastig und kniete vor ihm nieder, um an der schmutzigen Hacke eines der Stiefel zu ziehen. Als es ihr gelungen war, ihn ihrem Gemahl vom Fuß zu ziehen, stellte sie den Schuh ab und griff nach dem Zweiten. Plötzlich jedoch schien sich der Raum um sie herum zu drehen, und sie spürte, wie ihr Bewusstsein den Körper floh.
Als sie wieder zu Sinnen kam, lag sie auf dem großen Himmelbett. Christoforo saß neben ihr und hielt ihre kalte Hand. „Ich habe von deinem Vater gehört“, sagte er leise, und in seinen Augen lagen tiefer Kummer und Mitgefühl.
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