Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
die Ausbildung fortzusetzen. Der Totengräber hatte sich halbherzig auf dem Tempelgelände umgesehen. Der Hohepriester hatte geseufzt, ein Gebet gesprochen und eine Notiz in das Buch des Untergangs gekritzelt. Taires Habseligkeiten wurden zusammengepackt und in einer Kiste mit der Aufschrift »Herrenlos« gelagert.
Es gab keine Leiche, keinen Abschiedsbrief, nichts, was darauf hindeutete, dass sie überhaupt existiert hatte; nichts, außer dem rußigen Fleck auf dem Boden des Schlafsaals.
Und Asper.
Niemand hatte das schüchterne kleine braunhaarige Mädchen, das sich immer den linken Arm rieb, gefragt, wohin Taire verschwunden war. Niemand hatte auf ebendieses schüchterne kleine braunhaarige Mädchen geachtet, das nächtelang weinte, lange, nachdem alle anderen Taire längst vergessen hatten.
Alle, bis auf sie, die wusste, dass Taire gefleht hatte, ebenso wie das Langgesicht und das Froschwesen.
Sie hatte keinen von ihnen vergessen. Ebenso wenig hatte sie den Schmerz vergessen, den sie empfunden und mit ihnen geteilt hatte, als ihr Arm all jene aus dem Leben gerissen hatte. Sie konnte es noch fühlen, würde es noch spüren, noch lange, nachdem selbst die Leute, die solche Dinge aufschrieben, vergaßen, dass jemals ein Langgesicht in Eisentrutz existiert hatte. Sie würde ihre Schreie hören, hören, wie ihre Knochen brachen, ihre Organe platzten, würde ihr Flehen hören.
Ihr Arm war ein Teil des Fluchs. Dass Asper niemals vergaß, war der andere Teil.
Sie hatte auch nicht vergessen, dass niemand jemals geantwortet hatte, so oft sie auch zur Sonne aufsah und fragte: »Warum?«
»Es ist schon wieder passiert«, flüsterte sie erstickt durch die Tränen in ihren Augen.
Asper drehte sich herum. Das Medaillon, das auf dem Felsbrocken lag, schien nicht besonders an ihren Worten interessiert zu sein. Der Wald tanzte, die Zweige schaukelten über ihr und warfen tanzende Schatten über den silbernen Phönix. Der Blick der geschmiedeten Augen war gesenkt, und sein aufgerissener Schnabel schien zu gähnen, als fragte er sich, wie lange ihre tränenreiche Beichte wohl noch dauern würde.
»Es ist wieder passiert«, wiederholte sie und trat einen Schritt vor. »Es ist wieder passiert, es ist wieder passiert, es ist wieder passiert.« Bei jeder fiebernden Wiederholung trat sie einen Schritt näher, bis sie vor dem Felsbrocken auf die Knie sank, vor diesem improvisierten Altar, und ihre Tränen auf das Medaillon tropften. »Es ist schon wieder passiert.
»Warum?«
Das Medaillon antwortete nicht.
»Warum?«, wiederholte sie lauter.
»Warum, warum, warum, warum?« Ihre Knöchel bluteten, als sie auf das Symbol einschlug, versuchte, eine Antwort aus ihm herauszuprügeln. »Warum passiert mir das immer wieder? Warum tust du mir das an?«
Sie hob die Hand zu einem weiteren Schlag. Der Phönix sah sie unter dem Blut auf dem silbernen Gesicht an. Ihre Drohung kümmerte ihn nicht. Er blickte ungerührt zurück, wie Eltern, die darauf warteten, dass sich der Wutanfall ihres Kindes von allein legt. Aspers Hand zitterte in ohnmächtiger Wut in der Luft, bevor sie schließlich neben dem Felsbrocken zusammenbrach.
»Was habe ich getan, um so etwas zu verdienen?«
Asper hatte diese Frage schon einmal gestellt, demselben Gott, in ihrer ersten Nacht im Tempel. Sie hatte vor seinem Abbild gekniet, das statt in Silber in Stein gemeißelt war, weit weg von den liebenden Umarmungen ihres Vaters und ihrer Mutter, weit weg von dem Ort, den sie einst Heim genannt hatte. Sie hatte dort gekniet, allein, und den Gott gefragt, den sie anbeten sollte.
»Warum?«
Talanas hatte ihr Taire geschickt.
»Weil«, hatte das junge Mädchen, das immerzu lächelte, aus dem Hintergrund der Kapelle geantwortet, »es jemand muss .«
Dann hatte sich Taire neben sie gekniet, vor den Gott, der ihr in diesem Moment näher war als Vater oder Mutter. Talanas war ein liebender Gott, sorgte für alle lebenden Wesen, hatte sich selbst geopfert, damit die Menschen erfuhren, was Tod bedeutete, was Krankheit bedeutete, und wie man sie abwenden konnte. Talanas kümmerte sich um Seine Priester genauso, wie Er sich um Seine Anhänger kümmerte, und als Taire sie anlächelte, wusste Asper, dass Talanas auch für sie beide sorgen würde.
»Was muss jemand?« , hatte sie damals das Mädchen gefragt.
»Jemand muss es tun«, hatte Taire geantwortet.
»Was tun?«
»Das, weswegen wir hier sind«, hatte das Mädchen geantwortet, die Hand ausgestreckt und dem
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