Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
liebevollem Klagen bringe ich zu Gehör, was sich in meinem Verstand regt«, meinte Rashodd seufzend. »Aber da ich als ein Mann spreche, der nur Zeit und Finsternis im Namen führt, frage ich mich unwillkürlich, ob ihr auch fähig seid, ein Argument vorzubringen, ohne es mit einer religiösen Aussage zu untermalen.«
»Das Argument liegt in dieser Aussage«, antworteten die Stimmen. »Du bist kein Vieh, Rashodd. Du bist keine Bestie, sondern ein Gefangener, und das nicht mehr lange. «
»Das behauptet ihr«, knurrte Rashodd. »Selbstverständlich und mit nicht gerade ungebührlichem Widerwillen weise ich darauf hin, dass ich nur deshalb noch ein Gefangener bin, weil ihr bislang euren Teil unserer Abmachung nicht eingehalten habt.«
»Beklagenswert«, erwiderten die Stimmen. »Aber deine Anwesenheit hier dient weiterhin unseren Zwecken. Du wirst bald frei sein.«
»Diese Tür besteht nur aus ein paar Stöcken, die mit Tauen zusammengebunden sind«, antwortete Rashodd. »Ich bin frei, sobald ich mich entschließe, den Jungen vor der Tür zu erwürgen. Ich bleibe nur aufgrund eurer Versprechungen.« Seine Stimme wurde zu einem heiseren Fauchen. »In den Tagen der Dunkelheit jedoch, muss ich zugeben, finde ich sie nicht gerade sonderlich erhellend.«
»Und doch zwingt dein Glaube dich zu bleiben.«
»Noch für eine Weile.«
»Wir stellen fest, dass uns unser Vertrauen in den Mund verlässt. Das Lob, mit dem wir ihn überhäufen, genügte nicht mehr, um seine Dienste zu erzwingen. Er wankt. Er wird schwächer.«
»Und ihr wünscht meine Dienste«, flüsterte Rashodd. »Ihr wollt, dass ich diesen ... diesen Daga-Mer befreie.«
»Damit die Abgründige Mutter ihren Weg finden kann, muss Vater ebenfalls den seinen finden.«
»Und wenn ich eurem Wunsch nachkomme ...«
»Gewähren wir dir, was du dir wünschst.«
Rashodds Finger, vielmehr das, was von ihnen übrig geblieben war, strichen über sein Gesicht. Ganz gleich, wie oft er es tat, und ganz gleich, wie oft er sich sagte, dass sie nicht mehr da sein würden, passierte es ihm immer wieder, dass er erwartete, bestimmte Teile von ihm immer noch an ihrem angestammten Platz zu finden: eine Nase, ein Auge, einen Teil seiner Lippe. Und ganz gleich, wie oft seine Finger die zerfetzten Narben liebkosten, die sich jetzt dort befanden, wuchs seine Wut immer weiter.
»Mein Gesicht ...«, flüsterte er.
»Wir können es dir zurückgeben.«
»Meine Finger...«
»Wir geben sie dir zurück.«
Er starrte auf seine Hand. Er spürte immer noch den Kuss des Stahls, die Zunge des Dolches, der seine Gliedmaßen abgetrennt hatte. Er sah immer noch die Hand, die ihn gehalten hatte. Hörte die Stimme, die ihm befohlen hatte, nicht zu schreien. Er konnte sich sehr gut an den Assassinen erinnern, den Schurken, ganz in Schwarz gekleidet, an die Tränen in seinen Augen.
»Meine Rache...«, flüsterte er heiser.
Die Antwort Machtworts wurde von einem melodischen Gelächter begleitet.
»Die Rache ist dein.«
Das Wasser ist heute kalt.
Lenk verweilte ein wenig bei diesem Gedanken, während er seine Hand in den rauschenden Fluss hielt. In dem klaren Wasser sah er über dem Flussbett aus gelben Kieseln die Aale. Sie hatten kleine Füße und starre, riesige und ausdruckslose Augen neben ihren klaffenden Mäulern. Sie hielten sich mit ihren stummeligen, nadelartigen Beinen an Felsen und Algen fest, um nicht von der Strömung fortgerissen zu werden.
Er imitierte ihre Miene, starrte ausdruckslos ins Wasser und wartete darauf, dass etwas in seinem Kopf antwortete. Er musste nicht lange warten.
»Mmh.«
Der Steedbrook war nie so kalt.
»Daran kannst du dich erinnern?«
Danach wurde das Dorf benannt. Sein Wasser trieb das Rad der Getreidemühle an. Sie war das Herz des Dorfs. Das hat mein Großvater mir erzählt.
»Die Erinnerungen kehren zurück. Das ist gut.«
Tatsächlich?
»Nicht?«
Du scheinst dir bisher nie Gedanken darüber gemacht zu haben.
»Du hast auch niemals zuvor von der Vergangenheit geredet.«
Glaubst du, dass es noch mehr gibt?
»Mehr was?«
Erinnerungen.
Er wartete geduldig auf eine Antwort. Doch alles, was ihm antwortete, war der Fluss, der ziellos murmelnd über die Felsen rieselte. Er runzelte die Stirn.
Bist du noch da?
Die Sonne schien warm auf seine Stirn, viel zu warm. Irgendjemand murmelte irgendetwas irgendwo anders.
»Erinnerungen«, antwortete die Stimme schließlich, »sind eine Mahnung an das, was nicht hat sein sollen.«
Er blinzelte.
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