Die Tortenbäckerin
sie auch gelernt, was Buchstaben sind. Das war ziemlich schwer gewesen, aber Greta hatte so lange verschiedene Laute von sich gegeben und dazu mit Lenis Zeigefinger auf dem Tisch gemalt, bis Leni es beim O endlich verstandenhatte. Das O war ein groÃer Kreis, genauso ein Kreis, wie sie mit dem Mund machen musste, wenn sie das O aussprach. Die anderen Buchstaben waren schwieriger. Greta hatte jedoch versprochen, dass sie von nun an bei jedem Besuch Leni ein paar neue Buchstaben beibringen würde.
Aber die Märchenfee kam nicht mehr. Jeden Abend betete Leni zum lieben Gott, ganz fest faltete sie ihre Händchen, bis es sogar ein bisschen weh tat. Bald war Weihnachten, und sie hatte nur einen Wunsch: Greta sollte sie wieder besuchen.
Bitte, lieber Gott, mach, dass Greta kommt. Leni wäre auch gern in den kleinen Park gegangen, wo sie sich meistens trafen, obwohl es da jetzt sehr kalt war.
Auch ihren groÃen Freund, der immer so wunderbar mit ihr redete und ihr die Sprache der feinen Leute beibrachte, hatte Leni nicht mehr gesehen.
Vielleicht hatte der liebe Gott zu viel zu tun. Er musste sich ja auch um die vielen Kinder kümmern, die Leni manchmal unten auf der StraÃe hörte. Das waren ganz wilde Kinder, und Leni glaubte nicht, dass sie ein Zuhause hatten. Sie konnte sie ja auch nachts hören, wenn sie mit ihren Holzpantinen durch die Gassen rannten.
Müdigkeit überfiel sie, und ihr Kopf sackte auf die Knie. In der Stube waren die Stimmen der Eltern verstummt. Wenn die Märchenfee wiederkommt, dachte Leni noch, bevor sie einschlief, dann muss ich sie unbedingt fragen, was das ist: Juden.
10
à ber Nacht war Schnee gefallen. An diesem frühen Dezembermorgen glänzte ganz Altona in sauberer, weiÃer Pracht. Greta stapfte an der Seite ihrer Tante die GeorgstraÃe hinunter und spürte, wie kalte Feuchtigkeit durch die dünnen Sohlen ihrer Schnürstiefel drang. Dennoch freute sie sich an der stillen Schönheit. Wie unter einem dicken Federbett lag der Unrat verborgen, den viele Menschen in den Mietshäusern trotz hoher Strafen immer noch heimlich aus dem Fenster kippten oder im Vorbeigehen liegen lieÃen. Aus alter Gewohnheit liefen die beiden Frauen auf der Seite des Evangelischen Kirchhofs. Dort gab es fast keinen Dreck auf der StraÃe, denn die Toten hatten keinen Abfall mehr, wie Mathilde zu sagen pflegte.
Greta bemerkte, wie ihre Tante einen langen Blick hinüber zu den weià bepuderten Gräbern warf. Sehnsucht stand in diesem Blick und eine leise Trauer.
Sie liebt ihn immer noch, dachte Greta bei sich. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte sich die junge Mathilde Voss mit einem schneidigen Infanteristen verlobt, kurz bevor er mit seinem preuÃischen Regiment in den Deutsch-Französischen Krieg zog. Er fiel am 1. September 1870 in der Schlacht bei Sedan. Sein namenloses Grab im fernen Frankreich konnte Mathilde nie besuchen, aber seit damals ging sie regelmäÃig auf den Friedhof von SanktJohannis, setzte sich auf eine Bank unter einer Trauerweide und erinnerte sich an ihren Traum vom Glück, der sich nie erfüllt hatte. Statt einer deutschen Hausfrau und Mutter war aus ihr eine Köchin geworden, die, ihrer Zeit weit voraus, trotz fester Anstellung auf ein groÃes Maà an Unabhängigkeit bestand.
Mathilde war zudem der einzige Mensch, den Greta kannte, der schon immer am Sedantag zu Hause geblieben war. Im ganzen Reich tanzte das Volk an diesem Tag und oft auch schon am Vorabend durch die StraÃen, schaute militärischen Paraden zu und trank mehr Bier oder Wein als sonst in einem ganzen Monat. Man feierte den Sieg der preuÃischen, bayerischen und sächsischen Truppen über die Franzosen. Lobreden auf Kaiser Wilhelm II. wurden gehalten, Kinder wie Erwachsene schwenkten schwarz-weiÃ-rote Fahnen, Musikzüge bewegten sich durch die StraÃen, und für die Armen gab es Bockwürste umsonst. Schulkinder bekamen frei, Wettspiele wurden veranstaltet. Die Jungen maÃen sich in turnerischen Ãbungen, die Mädchen tanzten in einem Reigen. Und immer wieder erklang das ehrenvolle Lied: »Deutschland, Deutschland über alles.«
Früher hatte sich Greta schon Wochen vorher auf die Festivitäten gefreut, und sogar ihre Mutter hatte sich davon anstecken lassen. Mathilde nie. Mathilde blieb daheim und trauerte. Seit ein paar Jahren nun hatte auch Greta die Freude an diesem Tag verloren, und Viola hatte schon lange
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