Die Tortenbäckerin
konnte nämlich genau sehen, wie er dem Mädchen eine Brosche an den Mantelkragen gesteckt hat.«
Vor Erleichterung fühlte sich Greta auf einmal schwach und hörte kaum zu, wie nun Oliver zu Ende erzählte. Der junge Herr Baron war kaum achtzehn Jahre alt und leidenschaftlich verliebt in Suzette Morieux, die Tochter des Theaterdirektors, ihrerseits gerade siebzehn geworden. Von Siggo in die Enge getrieben, gestand Ferdinand sofort den Diebstahl und war bereit, zurück zur Villa zu fahren, um Greta zu entlasten.
Oliver reckte stolz seine schmale Brust vor. »Die Baronin bittet vielmals um Verzeihung und lässt fragen, ob die erstklassige Köchin bereit ist, noch die nächsten zwei Tage bei ihr zu arbeiten.«
Greta senkte den Kopf und starrte auf den an vielen Stellen löcherigen Teppich. Dann hob sie den Blick, sah Siggo in die Augen und fühlte auf einmal, wie Kraft und Lebensmut zu ihr zurückkehrten.
»Nein«, sagte sie laut und deutlich. »Ich bin nicht bereit. Martha von Spiegel wäre es um ein Haar gelungen, meinen guten Ruf zu ruinieren. Ohne euch hätte ich inkeinem vornehmen Haus mehr Einlass gefunden. Das werde ich euch nie vergessen.«
»Du hast Hilfe gebraucht«, erwiderte Siggo schlicht und hielt ihren Blick fest.
Niemandem schien aufzufallen, dass Greta und Siggo sich plötzlich duzten. Einzig Mathilde Voss ertappte sich bei einem kleinen Lächeln.
»Aber wie soll es nun weitergehen?«, fragte sie. »Greta steht wieder ohne Arbeit da.«
»Also«, sagte Siggo langsam, »ich habe da vielleicht eine Idee, aber darüber müssen wir in Ruhe sprechen. Am besten gleich morgen früh. Heute Abend sind wir alle zu müde.« Dabei strahlte er so viel jugendliche Tatkraft aus, dass Greta sich kaum vorstellen konnte, diesen Mann wirklich einmal erschöpft zu sehen.
S ie hörte ganz deutlich, wie sie stritten, aber sie verstand nicht, was sie sagten. Leni kauerte in ihrer Schlafkammer zwischen ihrem Bett und dem Schrank und hielt sich fest die Ohren zu. Trotzdem drangen die Stimmen in ihren Kopf. Die von Mutti, hell und schrill, die von Vati, dunkel und ⦠böse.
Ja, böse.
Leni erschrak.
Vati ist böse. Vati ist böse. Vati ist böse.
Jetzt wusste sie auf einmal, warum sie Angst vor ihm hatte. Sie lieà die Hände sinken und starrte blicklos in die Dunkelheit. Unten auf der StraÃe klapperten die Hufe eines Pferdes. Der Milchmann war schon unterwegs. Leni kannte alle Geräusche, und nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, waren sie besonders leicht zu unterscheiden.
Sie dachte an Milch, weiÃe sahnige Milch, und ihr Mund wurde ganz trocken. Sie hatte lange keine mehr bekommen. Mutti sagte, Wasser sei genauso gut.
Mutti. Jetzt schrie sie richtig. »Du bist verrückt. Du kannst das Kind doch nicht an die Juden verkaufen!«
Leni fühlte sich auf einmal ganz steif. Verkaufen? Der Milchmann verkaufte die Milch, der staubige Mann verkaufte die kleinen Stücke, mit denen Mutti Feuer im Herdmachte. Kohle. Leni war ganz stolz, dass ihr das Wort wieder eingefallen war.
Vati redete jetzt, mit seiner bösen Stimme. »Dummes Weib, du kapierst gar nichts. Das sind ganz feine Leute, die haben auf der Reise von Galizien hierher ihre süÃe kleine Tochter verloren. Und jetzt wollen sie nicht ohne Kind auswandern. Die sitzen seit Wochen in einer Baracke am Amerika-Kai fest und sind untröstlich. Versteh doch, Lotte, wir wärân auf einen Schlag alle Sorgen los. Denen ist es auch wurscht, dass ihre neue Tochter ein blindes Hühnchen ist. Wir haben schon lange kein Geld mehr gesehen für das Gör, wahrscheinlich kommt da auch nie mehr was. Jetzt haben wir sie am Hals, und du sagst doch selbst immer, wie viel Arbeit sie macht. Die Leute sind stinkreich. Wir hätten für den Rest unseres Lebens ausgesorgt.«
So viel hatte Vati noch nie auf einmal geredet, und Leni verstand gar nichts. Die Worte rauschten in ihre Kammer, sammelten sich an der Decke und stieÃen wie kleine Eiskörner auf sie herab. Aber bevor Leni sie zu fassen bekam, schmolzen sie dahin. Zurück blieb nur eine Pfütze aus Buchstaben.
Leni musste kichern. Eine Pfütze aus Buchstaben, das war lustig. Das musste sie unbedingt der Märchenfee erzählen, wenn sie wieder zu Besuch kam. Greta liebte es, wenn Leni verrückte Sätze erfand. Sie war nicht wie Mutti, die immer nur schimpfte. Von Greta hatte
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