Die Tortenbäckerin
dann hat Mutti sie mir weggenommen.«
Oliver konnte ihr ansehen, wie unglücklich sie darüber gewesen war.
»Manchmal habe ich ziemlich viel Hunger«, wisperte Leni. »Vati hat mir verboten, das zu erzählen, sonst fliegt mein Kopf wieder weg. Aber du bist mein lieber Freund. Dir darf ich das sagen, oder?«
Oliver brachte nur eine Art Räuspern als Antwortzustande. Er wusste sehr wohl, was Hunger war, und er fragte sich, wie grausam diese Krögers sein mussten, dass sie diesem engelsgleichen Mädchen nicht genug zu essen gaben. Und was war das mit dem Kopf? Oliver erinnerte sich an die eine oder andere Ohrfeige, die ihm sein Vater früher verpasst hatte, wenn er nicht gleich gehorcht hatte. Das hatte weh getan, aber es war auszuhalten gewesen. AuÃerdem hatte er es ja auch verdient gehabt. Er stellte sich vor, wie Lenis Gesicht von einer rauen Männerhand geschlagen wurde, und Wut stieg in ihm hoch. AuÃerdem war ihm gleich aufgefallen, wie kalt es in der Kammer war. Die alte gelbliche Tapete rollte sich feucht von den Wänden, genauso wie die Tapete bei ihm zu Hause, als er schon lange vor Weihnachten nicht mehr heizen konnte. Die Dielenbretter waren mit einem schmierigen Belag überzogen.
»Schweinekalt ist es hier auch«, sagte er.
Da lachte Leni ein glockenhelles Lachen. »Schweinekalt«, wiederholte sie. »Das ist ein wunderbares Wort. Vielen Dank dafür.«
Noch nie hatte sich jemand bei Oliver für ein Wort bedankt. Er fand das ziemlich komisch. Aber gleich darauf hörte er gebannt zu, wie Leni damit spielte.
»Schweinekalt, aber eigentlich sind Schweine doch warm, und die grunzen, und sie stinken ein bisschen. Das hat mir ein Junge auf dem Markt erzählt, als Mutti einmal Würstchen gekauft hat. Aber schweinekalt klingt trotzdem schön, da bibbern die armen Schweine ganz furchtbar, und ihre Ringelschwänzchen fallen herunter vor lauter Kälte. Und weil die Schweine dann kein Schwänzchen mehr haben, sehen sie gar nicht mehr aus wie Schweine,sondern wie, wie ⦠groÃe dicke Bauern, und die leben dann in ihrem eigenen Stall, und alle Leute, die vorbeikommen, lachen über die Bauern, die ganz laut schimpfen, aber alle hören nur ihr Grunzen.«
»So was«, murmelte Oliver. Er hatte Leni zugehört und dabei völlig vergessen, dass sie nur ein fünfjähriges Kind war, das dringend seine Hilfe brauchte.
»Du kannst ja schön erzählen.«
Da erschien wieder das Strahlen auf ihrem Gesicht. »Vielen Dank. Greta sagt auch, dass ich viel Pha⦠Phaâ¦Â«
»Phantasie«, half Oliver aus.
Sie nickte so heftig, dass ihre goldenen Locken wippten. »Ja, dass ich viel Phantasie habe.«
Greta. Endlich erinnerte sich Oliver, warum er hier war. »Hör mal, Leni«, sagte er. »Weil ich jetzt dein Freund bin, werde ich dir helfen.«
»Oh«, machte sie. »Wie schön. Dann muss ich keinen Hunger mehr haben, und es wird auch nicht mehr so schrecklich kalt sein?«
Er nickte, erinnerte sich daran, dass sie ihn nicht sehen konnte, und sagte mit fester Stimme: »Ja. Dafür werde ich sorgen. Versprochen.«
Zwar wusste er noch nicht, wie er das anstellen sollte, aber ihm würde schon etwas einfallen. AuÃerdem hatte er Freunde. Paul, Harry und Olaf. Hatte Paul nicht nach dem Tag am Hamburger Hafen gesagt, Oliver habe jetzt was gut bei ihm?
Siggo erschien in der Tür und riss Oliver aus seinen Ãberlegungen. »Wir müssen gehen.« Er klang, als könne er nur mühsam seine Wut unterdrücken. Schnell sprang Oliver auf.
Aber ihm fiel noch etwas ein. Sein Blick strich suchend durch die Kammer, dann fand er in der hinteren Ecke ein loses Dielenbrett. Vorsichtig hob er es an und nickte zufrieden. Der Hohlraum darunter würde reichen. Er nahm Leni bei der Hand und führte sie hin. »Hier«, sagte er leise. »Spürst du das?«
Sie nickte.
»Das ist jetzt dein geheimes Versteck.«
Sie verstand sofort und schob mit seiner Hilfe das flache Kuchenpaket unter das Dielenbrett. Zuvor griff sich Oliver noch ein paar Krümel und wischte sich mit der Hand über den Mund.
»Bis bald, Leni.«
Sie hob ihre schmale Hand. »Bis bald, Oliver.«
Siggo war schon aus der Wohnung, und die böse Frau Kröger funkelte Oliver an, als er betont langsam an ihr vorbeischlurfte.
»Sehr lecker, der Kuchen«, nuschelte er und tat so, als habe er noch einen
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