Die Tote im Badehaus
wußte nicht, woher diese Worte kamen, aber ich mußte weiterreden.
»Ich habe Ihnen ein paar zusätzliche Minuten geschenkt. Weil Sie soviel für mich getan haben. Wenn es Ihnen lieber ist, ohne Abschiedsbrief zu springen, dann gehen wir gleich ans Fenster.«
Sie schob mich zum Seitenfenster und öffnete es leicht mit der linken Hand. Kalte Luft vermischt mit Abgasen und verfaultem Gemüse wehte mir ins Gesicht. Der Müllhaufen war gut drei Meter rechts von meinem Fenster. Wenn ich zaubern könnte, würde ich mich einfach hinüberwehen lassen und sicher auf den Mülltüten landen. Ansonsten waren es vier Stockwerke bis zum Betonboden.
»Ich springe nicht. Sie müssen mich schon hinauswerfen.« Ich drehte mich zu ihr um und überlegte. Obwohl sie größer und schwerer war als ich, war es unwahrscheinlich, daß sie stark genug war, mich hochzuheben. Bisher hatte sie es nur geschafft, Setsuko etwas über den Kopf zu hauen und Mrs. Yogetsu vor einen Zug zu stoßen. Sie würde mich nicht hochheben und aus dem Fenster werfen können. Doch ihr schwebte offensichtlich etwas anderes vor.
»Auf Wiedersehen, Rei.« Ihr Gesicht war ganz ruhig, als sie das Messer geradewegs auf meinen Hals zuführte. Ich wich ihr aus, das Messer durchtrennte den feinen Baumwollstoff und prallte von meinem Schlüsselbein ab. Ich spürte den Schnitt, aber das Adrenalin begann zu wirken, als ich unter ihrem Arm hindurchrutschte und auf die Tür zueilte.
»Idiotin!« Sie stürzte sich auf mich, so daß wir beide auf dem Boden landeten.
Das Telefon klingelte. Mrs. Chapman stach erneut zu und erwischte mich am Bizeps. Dann krachte es laut, und ich wußte, daß sie mich am Kopf erwischt hatte, wo sie gleich am Anfang hätte hinzielen müssen.
Für einen Moment wurde alles schwarz. Dann jaulte Mrs. Chapman so laut auf, daß ich wußte, ich lebte noch. Das Telefon klingelte weiter. Ich krabbelte darauf zu und stieß den Hörer mit der Schulter auf den Boden.
»Wer ist da?« fragte ich völlig orientierungslos wegen der bizarren Szene, die sich da vor mir entfaltete. Mrs. Chapman lag auf dem Rücken wie ein gestrandeter Wal, und ein langes Schwert berührte sie am Hals. Ich blinzelte und sah, daß das Schwert eigentlich eine Metallkrücke war. Die Krücke war verbunden mit Hugh Glendinning, der aussah wie ein keltischer Held kurz vor seinem letztem Atemzug. Er stützte sich nur noch auf eine Krücke und neigte sich gefährlich auf eine Seite.
»Ganz ruhig«, sagte Hugh zu Mrs. Chapman, und zu mir sagte er: »Da ist Blut auf meinem Hemd, Darling. Das war das letzte Mal, daß ich dir ein so gutes Stück geliehen habe.«
Ich antwortete nicht, sondern konzentrierte mich auf die weit entfernte Stimme am Telefon.
»Hallo, hier spricht Winnie Clancy. Kann ich bitte mit Hugh sprechen?«
»Ich glaube, er ist gerade – unpäßlich.« Das konnte keine Fata Morgana sein, wenn Winnie anrief.
»Sie arbeiten schnell, nicht wahr?« sagte Winnie mit ihrem abgehackten Akzent.
»Mrs. Clancy, würden Sie mir einen Gefallen tun?«
»Was denn?« Sie klang wütend.
»Rufen Sie 110 an«, sagte ich etwas großtuerisch und mit meinem besten amerikanischen Akzent. »Sagen Sie ihnen, sie sollen zu 49 Nihonzutsumi fahren, Apartment 4 B. Kommen Sie ruhig selbst vorbei, wenn Sie Hugh sehen wollen. Aber rufen Sie erst die Polizei, wenn Sie seinen schottischen Arsch lebendig wollen.«
34
Hugh benutzte Seife in der Wanne, was ich in Japan noch nie gesehen hatte. Dünne Seifenschlieren wirbelten im Wasser, die Geister verbotener Bäder in der Vergangenheit. Ich schüttelte mich bei dem Gedanken, welchen Schaden er bereits in seinem Bad angerichtet hatte.
»Morgen siehst du aus wie ein Boxer.« Hugh drehte kurz das kalte Wasser auf, um den Waschlappen zu kühlen, bevor er ihn mir wieder an den Bluterguß unter meinem Auge hielt. Er hatte nicht übertrieben, als er sich als König der Sportverletzungen bezeichnet hatte. Er hatte dafür gesorgt, daß ich eine Eiskompresse bekam, während ich auf Tom wartete, der in der Chirurgie beschäftigt war. Er warf Hugh einen anklagenden Blick zu, doch er nahm alles zurück, als er die ganze Geschichte gehört hatte.
»Ich verstehe immer noch nicht, wie du herausgefunden hast, daß Mrs. Chapman die Schuldige ist.«
»Ich bin um vier Uhr morgens aus diesem verdammten Krankenhaus geflohen, um endlich mal wieder anständig zu schlafen«, sagte er und massierte mir die Schultern. »Als ich aufgewacht bin, waren Winnie und Piers
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