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Die Tote im Ritz - Ein Fall fuer Detective Joe Sandilands

Titel: Die Tote im Ritz - Ein Fall fuer Detective Joe Sandilands Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Cleverly
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blauen Venen unter der Oberfläche, auf die verheilten Kohlenstaubnarben über Knochen, die durch die dünne Schicht von Fleisch an Kinn und Handgelenken förmlich durchzubrechen schienen.
    Kein Wunder, dachte Joe mit einer Welle des Mitgefühls, wenn der Lohn des Mannes um ein Viertel gekürzt worden war und seine Arbeitszeit zehn Stunden pro Tag überstieg. Eine ordentliche Belohnung war dem Arbeiter für vier Jahre Opferdienst versprochen worden.
    »Hier, Schätzchen,’n Sixpence für’n Sandwich und’ne Tasse Tee«, sagte eine mütterliche Frau. »Wirst dich besser fühlen, wennste was im Magen hast.«
    Der Bergarbeiter nahm die Spende würdevoll entgegen und schenkte ihr ein überraschtes Lächeln.
    »Kein Penny weniger Lohn!«, rief er ermutigt.
    »Keine Minute mehr an Arbeit!«, rief die Menge wie auf Stichwort zurück, was an eine Varieténummer erinnerte.
    »Gebt ihnen nichts für nichts!«, dröhnte ein East Ender, den starken Yorkshire-Akzent des Bergarbeiters imitierend.
    »Dummköpfe«, kommentierte Armitage. »Wir werden ja sehen, ob sie das immer noch denken, wenn ihre Milchlieferungen nicht durchkommen.«
    Es war allerdings noch keine beginnende Schlägerei auszumachen. Keine Pitbulls mit ihren Besitzern im Schlepptau. Wahrscheinlich waren die noch im Pub. Aber auch kein Anzeichen weiblicher Polizisten. Mathilda hätte in ihrer dunkelblauen Serge ziemlich herausgestochen unter all den Frauen, die offenbar beschlossen hatten, dass es allmählich reichte - der Winter war endlich vorbei, und sie begrüßten den Frühling. Baumwollkleider wurden zu Ehren des hellen Aprilsonnenscheins getragen, obwohl die Schultern vernünftigerweise mit Strickjacken und sogar Schals verhüllt waren.
    Weiter vorn hörten sie die trommelfellzerreißende Tirade eines Mitglieds der faschistischen Bewegung. Er brüllte und gestikulierte in dem Bemühen, den Mann neben ihm zu übertrumpfen, einen Kommunisten, wie man der roten Schärpe entnehmen konnte, die er um seine Brust trug. Joe fiel auf, dass die Schritte von Armitage wahrnehmbar langsamer wurden, als sie an dem Bolschewiken vorbeikamen, und er dachte, dass er den Sergeant wohl an diesen Unterhaltungspunkt verloren hätte, wenn sie sich nicht auf einer Mission befunden hätten. Armitage entdeckte zwei uniformierte Bobbys auf Patrouille, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Er zeigte seine Dienstmarke und befragte sie. Dann berichtete er Joe, dass die beiden glaubten, die weiblichen Polizisten seien dem Serpentine-Bereich zugeteilt worden. »An sonnigen Tagen wie diesen wird manch ein Dreikäsehoch übermütig und bringt sich in Schwierigkeiten, indem er ins Wasser eintaucht.«
    Immer in Sichtweite fädelten sich Joe und Armitage durch die Menge, bis sie schließlich auf der anderen Seite herauskamen. Beide hielten an, um tief Luft zu holen und auf die offene Grünfläche vor ihnen zu schauen.
    »Man nennt sie die Lunge von London, Sir«, sagte Armitage mit so etwas wie bescheidenem Besitzerstolz. »Mit dem Kensington Palace auf der einen Seite und dem Buckingham Palace auf der anderen kann London von Glück sagen, dass es seine Lunge immer noch hat. Sie hätte schon längst für die Paläste vereinnahmt werden können.«
    »Glauben Sie nicht, man hätte es nicht versucht!«, sagte Joe. »Die zweite Frau von George - hieß sie nicht Caroline? - hatte doch tatsächlich den Nerv, den Premierminister zu fragen, was es kosten würde, alle drei großen Londoner Parks für den ausschließlichen Gebrauch des Hofes zu schließen. Der weise alte Walpole erwiderte: ›Madam, es würde Euch drei Kronen kosten: die von England, Irland und Schottland.‹ Sie hat die Idee daraufhin nicht weiter verfolgt.«
    Armitage grinste, genoss es, dass die alte Geschichte wieder einmal erzählt wurde.
    »Da ist der Serpentine.« Joe wies auf den funkelnden See, der vor ihnen lag und kaum durch die dichter werdenden Bäume auszumachen war. Stattliche Ulmen und Birkenhaine prunkten mit frischem, grünem Laub, noch nicht geschwärzt vom Ruß. Joe packte Armitage plötzlich am Arm und zeigte mit dem Finger. »Schauen Sie, Bill, können Sie es sehen? Dort!«
    Armitage war verwirrt.
    »Ein Zaunkönig«, sagte Joe. »Ich schwöre, das war ein Zaunkönig.«
    »Für mich sah das wie ein Spatz aus, Sir«, meinte Armitage unbeeindruckt.
    »Hören Sie. Können Sie nichts hören?«, beharrte Joe.
    »Nichts … Stille … Nein, in der Ferne höre ich den Verkehr … Kinder, die am See schreien...

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