Die Tote im Ritz - Ein Fall fuer Detective Joe Sandilands
kalte Vorahnung.
»Wir konnten keinen Ausweis finden, Sir. Keine Papiere, keine Namensschilder auf den Kleidungsstücken, gar nichts. Außer einer Sache in ihrer Tasche.«
» Ihrer Tasche?«
»Die Tote ist eine junge Frau, Sir.«
Er fummelte unter seinem Regencape und hielt ein kleines, weißes Objekt hoch.
»Wir hatten Glück, dass wir eintrafen, bevor die Tinte verlief. Man kann es gerade noch erkennen.« Er las von der Karte ab: »›Commander Joseph Sandilands, New Scotland Yard, London. Whitehall 1212.‹ Es ist Ihre Visitenkarte, Sir.«
16. KAPITEL
Einen Augenblick lang erstarrten Joes Gesicht und Gliedmaßen. Als er seine Stimme schließlich wiederfand, stieß er mit militärischer Präzision hervor: »Waterloo Bridge. Zu dieser Nachtzeit bekommen wir nie ein Taxi. Eine halbe Meile von hier? Das laufen wir in fünf Minuten.«
Er rannte aus der Tür, bevor die Wasserschutzpolizisten wussten, wie ihnen geschah. Sie hetzten hinter ihm her, mit donnernden Stiefeln und fliegenden Capes.
Als die Tür hinter ihnen zufiel, erhaschte der wachhabende Sergeant den Blick eines vorbeikommenden Constables, der die merkwürdige Szene beobachtet hatte. »Struth! Das hat ihn in Bewegung gebracht! Hast du sein Gesicht gesehen, als bei ihm der Groschen fiel? Ich frage mich, wie vielen Frauen der alte Furz in letzter Zeit seine Karte gegeben hat?«
»Klingt für mich nach einem Fall unerwiderter Zuneigung«, kommentierte der Bobby sentimental. »Hat wahrscheinlich irgendeinem armen Mädchen das Herz gebrochen.«
Joe stampfte über das Embankment. Seine Abendschuhe fanden gefährlich wenig Halt auf dem nassen Pflaster. Er sah nach vorn, durch die lichten Bäume, die den Fluss säumten, zu der schimmernden Linie blassgelber Lampen der Brücke. Kleopatras Nadel. Mehr als die Hälfte schon geschafft. Joe riss sich die Fliege herunter und fummelte den Kragen auf. Er rannte weiter, froh zu hören, dass seine Eskorte hinter ihm keuchte und fluchte.
Drei junge Frauen. Er hatte seine Visitenkarte drei jungen Frauen gegeben und zwar erst gestern. Mit Grauen listete er sie auf. »Audrey … Melisande … und ihrem Baby …« Sein Herz tat einen Sprung, drohte, ihm den Atem zuzuschnüren. »Und der kleinen Dorcas.«
Er hätte dem Sergeant eine einfache Frage stellen können, die die Auswahl auf eine beschränkt hätte: blonde, rotbraune oder schwarze Haare? Er wusste sehr wohl, warum er diese Frage nicht gestellt hatte. Ein Name von dieser Liste wäre mehr gewesen, als er hätte ertragen können, und er wollte nicht riskieren, dort an der Empfangstheke Gefühle zu zeigen.
Es musste Dorcas sein, beschloss er. Von der Grausamkeit ihrer Großmutter in die Verzweiflung getrieben, war sie nach London durchgebrannt und hatte die Zahl der gestrandeten und verwahrlosten Kinder erhöht, die zu Tausenden durch die kalten Straßen der Hauptstadt zogen. Er war freundlich zu ihr gewesen. Armitage hatte ihr schmeichelnde Aufmerksamkeit gezollt. Vielleicht hatte sie versucht, einen von ihnen zu kontaktieren? Er rannte weiter bis ans Ziel. Ohne ein Wort zu wechseln, blieben sie alle stehen, schnappten mit den Händen auf den Knien nach Luft, versuchten, sich zu fangen, bevor sie den bedrückenden, kleinen Rettungsraum betraten. Der ältere der beiden Wasserschutzpolizisten warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Ist schon in Ordnung, Sir. Sie geht nirgendwohin, wer immer sie sein mag. Fünf Minuten hin oder her bedeuten der Toten nichts.«
»Für mich ist es eine verdammte Ewigkeit«, erklärte Joe leidenschaftlich.
Ein Schleppkahn hupte traurig, ein Echo seiner Worte. Der Übelkeit verursachende Gestank der Verwesung stieg von dem Schlick unter ihnen auf. Es war Ebbe, und mehrere Meter übel riechender Schlamm säumten das tiefschwarze Ufer.
»Machen wir weiter, einverstanden?«
Sie tauschten Blicke aus, nickten und gingen hinein.
Ein dritter Polizist saß bei einer Tasse Tee, einen qualmenden Aschenbecher auf dem Boden zu seinen Füßen, und füllte das Kreuzworträtsel auf der Rückseite des Evening Standard aus. Er nahm Haltung an, als sie eintraten. Mitten im Raum, auf einem immer noch tropfenden Rollbett, lag eine Gestalt unter einem weißen Laken. Der Duftcocktail aus Karbol und Bleiche schien beinahe eine Erleichterung nach dem Gestank des Flusses. Als Joe vortrat, um das Laken anzuheben, hörte er zu seinem Entsetzen hinter sich eine Stimme zitieren:
»One more unfortunate,
Weary of breath,
Rashly importunate,
Gone to her
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